Sylke Kösterke und Jochen Proske berichten, wie Jugendliche Krisen überwinden können

Der Umgang mit Jugendlichen ist ihr Metier: Jochen Proske, 45, ist Jugendreferent des Erzbistums Hamburg und Sylke Kösterke, 48, Diakonin und Teamleiterin der Mutter-Kind-Einrichtung des Rauhen Hauses in Eidelstedt.

Hamburger Abendblatt:

Was sind die typischen Krisen bei Jugendlichen und wodurch werden sie ausgelöst?

Jochen Proske:

Krisen werden ja sehr subjektiv von Jugendlichen wahrgenommen, häufig wenn der Freund oder Freundin sie verlässt oder sie aus ihrer Ausbildung fliegen. Ein entscheidender Moment ist, wenn sie das Gefühl haben, sie sind hilflos, alleine und ratlos. Zudem ist die Leistungsanforderung sehr hoch, sie suchen nach ihrem Platz in der Gesellschaft.

Sylke Kösterke:

Zu uns kommen Jugendliche mit wirklich tiefen Krisen, denn bei ihnen wurde ja eine Hilfe zur Erziehung vom Jugendamt verfügt. Oftmals ist das nach dem Auseinanderbrechen der Familien, wenn Eltern schwer drogen- oder alkoholabhängig sind und die Kinder vernachlässigt wurden. Schlimm ist für Jugendliche, wenn ihre Bezugsperson wegfällt. Was richtig Stress auslöst, sind natürlich auch Schulprobleme.

Wenn eine Krise eingetreten ist, welche Möglichkeiten haben Einrichtungen und Beratungsstellen, den Jugendlichen zu helfen?

Kösterke:

Zuerst geht es darum, dass sie an einen sicheren Ort wie eine Jugendwohnung kommen, wo sie nicht mehr gefährdet sind. Wo verlässliche Personen sind, die nach der Schule da sind, Essen kochen, Wäsche waschen. Dann geht es um eine Stabilisierung der Jugendlichen und ihrer Lebenssituation. Wir schauen uns genau an, welche Fähigkeiten und Ressourcen sie haben, und versuchen sie darin zu stärken.

Proske:

Bei uns bietet die Caritas als professionelle Einrichtung Jugendgruppen und Beratungsstellen an, aber das greift oft erst bei einer bestimmten Eskalationsstufe. Wir begleiten Kinder und Jugendliche ja schon sehr früh in unseren Gemeinden und katholischen Schulen, bieten ihnen eine Heimat und Halt in Gruppen mit Gleichaltrigen, wenn es vielleicht in ihrer bisherigen Clique nicht mehr so gut läuft. Wir leisten genau wie die evangelischen Gemeinde eine Arbeit im Vorfeld, damit es gar nicht erst zu Krisen kommt.

Wann ist eine Wohngruppe die bessere Lösung als das Elternhaus?

Proske:

Es muss eine absolute Notsituation geben, bevor Kinder und Jugendliche aus den Familien genommen werden. Das Ziel ist, dass die Bedingungen wieder so hergestellt werden, dass das Erziehungsrecht der Eltern wieder greifen kann.

Kösterke:

Die Wohngruppe ist immer die allerletzte Lösung, wenn es gar nicht mehr geht. Es gibt dann auch spezielle Angebote an die Eltern. Aber es kommt darauf an, wieweit die Eltern sich darauf einlassen, zum Beispiel eine Therapie oder einen Entzug zu machen. Die Kinder wünschen sich keine anderen Eltern, sondern dass ihre Eltern anders sind. Aber es ist ja durchaus verantwortungsvoll, wenn die Eltern einsehen, dass sie sich nicht um ihre Kinder kümmern können.

Was gibt Jugendlichen Halt?

Proske:

In der Pubertät wird die Bindung zu den Eltern weniger wichtig, sie verschiebt sich in den Freundeskreis. Dazugehören ist wichtig. Und wenn das nicht gegeben ist oder sie sogar ausgeschlossen sind, wird ihr Zustand besonders in einer Krisensituation oft sehr kritisch.

Kösterke:

Das Wichtigste ist, geliebt und gewollt zu sein. Angenommen zu sein. Das sagen uns die Jugendlichen, die zu uns kommen. Denn sie wissen nicht mehr, ob sie von ihren Eltern überhaupt noch gewollt werden.

Bei einer Studie des Rauhen Hauses, bei der betreute Jugendliche befragt wurden, kam heraus, dass der Glaube der Betreuer und Glaube überhaupt oftmals kein Thema ist und somit auch keine Rolle in der Erziehung spielt. Warum ist das so, das Rauhe Haus ist doch eine christliche Einrichtung?

Kösterke:

In erster Linie sind wir eine Jugendhilfeeinrichtung und offen für alle, die in Not sind. Und dabei war der Glaube bisher kaum ein Thema, denn wir wollen den Jugendlichen nicht missionieren. Erst im Zuge der Ressourcenorientierung erkennen wir den persönlichen Lebensglauben als ein Kraftquelle, die in jedem Menschen angelegt ist und die auf sensible Weise entdeckt werden will.

Glauben Jugendliche anders als Erwachsene?

Proske:

Ja, für Jugendliche ist der Glaube etwas sehr Persönliches und hat oftmals nicht unbedingt etwas mit der Institution Kirche zu tun. Viele Jugendliche haben einen Patchworkglauben. Sie suchen sich Elemente aus verschiedenen Religionen zusammen. Manche können sich die Wiederauferstehung im Himmel vielleicht nicht vorstellen und finden die Wiedergeburt der Buddhisten cooler. Als Kirche stehen wir vor der Herausforderung, trotzdem Heimat zu sein für alle Gläubigen.