Berlin. Der Mediziner Dietrich Grönemeyer will den Alltag in Arztpraxen verändern – und fordert auch die Patienten auf, ihren Teil beizutragen.

Er hat viele Titel: „Star-Mediziner“, „Rückenpapst“ – aber auch „Gute-Laune-Onkel der Heilkunde“: Radiologe Dietrich Grönemeyer. Jetzt wird der Arzt, Autor und Unternehmer 70 Jahre alt. Pünktlich dazu erscheint sein neues Buch „Medizin verändern“ (Ludwig Verlag, ab 9. November) – mit bekannten Thesen. Wichtig sind sie nach wie vor.

Grönemeyer appelliert einmal mehr, die einzelnen Disziplinen der Medizin besser zu verknüpfen, den Menschen bei der Behandlung in den Mittelpunkt zu stellen, zuzuhören, aber auch die Rolle der Hausärzte und des Krankenpflegepersonals zu stärken.

So kritisch seine Aussagen in wissenschaftlichen Fachkreisen teils gesehen werden, durch seine Popularität verschafft er diesen Forderungen Gehör. Etwas, das medizinischem Fach- und Pflegepersonal trotz Brandbriefen und Streiks oft nicht gelingt. Wir haben den großen Bruder des bekannten Sängers digital zum Interview getroffen.

Herr Grönemeyer, was hat Sie zu Ihrem neuen Buch veranlasst?

Dietrich Grönemeyer: Mein Anliegen ist es, nicht einfach vorwurfsvoll in die Welt zu ziehen, sondern den Finger in die Wunde zu legen und die Menschen dabei gleichzeitig auch mitzunehmen. Es braucht nicht etwa nur mehr Zuwendung in der Medizin oder neue fächerübergreifende Kompetenzzentren, auch die Mündigkeit und Vorsorge von Patientinnen und Patienten sowie das Vertrauen und die Investitionsbereitschaft in Spitzenmedizin, Forschung und Digitalisierung muss gestärkt werden. Und ich würde mir mehr Offenheit gegenüber medizinischen Innovationen wünschen.

Hat die Pandemie den Blick auf Ihre Forderungen noch mal verändert?

Grönemeyer: Ich hatte gehofft, dass der Mensch dadurch in der Medizin nicht mehr nur weiter als Mittelpunkt benannt wird, sondern tatsächlich in den Mittelpunkt rückt. Diese Hoffnung hat sich aus meiner Sicht leider nicht erfüllt. Das Gegenteil ist der Fall. Ich habe den Eindruck, dass sich immer mehr Menschen von der Medizin verlassen fühlen, auch wenn es Statistiken gibt, die ein anderes Bild zeigen. Ich finde, es besteht akuter Handlungsbedarf.

Woran machen Sie das fest?

Grönemeyer: An Aussagen von Patienten, die bei mir in Behandlung waren. Sie brauchen, dass man ihnen zuhört, dass man sich Zeit nimmt, erklärt. Das fehlt ihnen, und sie fühlen sich allein gelassen. Psychische Erkrankungen nehmen stark zu, das zeigten die Statistiken bereits vor Corona. Vor allem machen mir die zunehmenden Angststörungen in der Bevölkerung Sorge – vor Corona, Krieg, Inflation und Arbeitslosigkeit.

Wie können Sie es leisten, sich die Zeit zu nehmen, die in vielen Praxen fehlt?

Grönemeyer: Wir haben schon vor circa 20 Jahren mit einigen Krankenkassen Sonderverträge abgeschlossen. So konnten wir schon lange Gesprächszeiten tatsächlich abrechnen, weil diese für mich immer einen wesentlichen Teil der Diagnose, Therapie und Vertrauensbildung darstellen. Das müsste eigentlich grundsätzlich möglich sein. Ebenso muss die Abrechnung nach dem Fallpauschalen-Prinzip in den Krankenhäusern verschwinden.

Auch niedergelassene Ärzte werden zunächst pro Kassenpatient und Quartal pauschal bezahlt.

Grönemeyer: Auch das ist ein absolutes Unding. Erzählen Sie mal einem Handwerker, er soll die Toilette für pauschal 50 Euro reparieren, auch wenn er noch gar nicht weiß, wie oft er dafür vielleicht kommen muss. Der lacht Sie aus. Und wenn wir diese Mängel im System nicht beheben, dann bleibt es bei der Fünf-Minuten-Medizin, die – da bin ich überzeugt – keiner möchte.

Und woher kommt das grundsätzliche Misstrauen, das Sie ansprechen?

Grönemeyer: Viele Menschen verstehen zum Beispiel nicht, was Covid-19 eigentlich ist. Warum es so bedrohlich ist oder warum es Sinn ergibt, sich impfen zu lassen wie gegen Tetanus oder Polio. Sie verstehen nicht, warum es wichtig ist, mit einem Hausarzt oder einer Hausärztin einen Manager an seiner Seite zu haben, um durch den Dschungel der Medizin zu finden, aber auch, um die leider oft verquasten Anweisungen der Politik zu dechiffrieren. So ist ihnen der Glaube an die Medizin und den medizinischen Fortschritt verloren gegangen.

Was braucht es aus Ihrer Sicht?

Grönemeyer: Ein Umdenken aller Beteiligten. Wir müssen enger zusammenrücken: Arzt, Patient, Apothekerin und Krankenschwestern – sie alle sind Partner auf Augenhöhe. Natürlich gehören noch viele anderen Berufe dazu wie etwa Physiotherapeuten, Ernährungsberater oder Psychologinnen. Aber Erstere sind mein Dream-Team. Aktuell wird hier leider oft gegeneinander gearbeitet. Das ist falsch und verunsichert die Patienten. Jeder ist gleichwertig und gleich wichtig.

Das muss sich nicht nur in der Haltung und im gemeinsamen Austausch des Fachpersonals widerspiegeln, sondern auch in der Ausbildung, der Kompetenzzuschreibung, der Wertschätzung und vor allem auch der Bezahlung. Im ersten Schritt hätten Pflegekräfte eine befristete Brutto-als-Netto-Auszahlung als Dankeschön verdient. Doch vor allem ist mir eine Aufwertung des Berufsbildes der Krankenschwestern wichtig – zum Beispiel als Coach der Patienten an der Seite des Hausarztes.

Das alles umzusetzen ist kostspielig. Wie soll das finanziert werden?

Grönemeyer: Wir müssen uns fragen: Was ist uns Medizin wert? Was ist uns Gesundheit wert? Der Staat alleine wird das nicht leisten können. Das ist klar. Das heißt, wenn sich etwas ändern soll, muss nicht nur der Staat investieren, sondern auch jeder Einzelne.

Ich denke hier an Zusatzversicherungen, die den individuellen Bedürfnissen gerecht werden – so wie es das auch bei Autoversicherungen gibt. Der eine möchte mehr naturheilkundlich behandelt werden, andere psychosomatisch, wieder andere mit modernster Medizin.

Auch ich selbst bin und war immer gesetzlich versichert – aber eben auch mit Zusatzversicherungen. Mein Vorschlag ist eine „PrivaSetzliche“ für alle, also eine Kombination von Gesetzlicher Krankenversicherung und einer ergänzenden privaten Zusatzversicherung. Das würde auch helfen, die Zwei-Klassen-Medizin zu überwinden – und lässt sich zügig umsetzen.

Aber nicht alle können sich Zusatzversicherungen leisten. Bleibt es damit nicht doch bei zwei Klassen?

Grönemeyer: Ja und nein. Aber mein Vorschlag zu einer sich weiterentwickelnden integrativen Kassenversorgung für alle ist die Stärkung des speziellen individuellen Wohlbefindens, für das wir persönlich bereit sein sollten, monatlich ein wenig mehr zu investieren. Das hat nichts mit den bestehenden grundsätzlichen Krankenkassenleistungen zu tun.

Ich verstehe daher auch nicht, warum man die Praxisgebühr von 10 Euro pro Quartal, also drei Euro im Monat, an die wir uns alle gewöhnt hatten, wieder abgeschafft hat. Gäbe es sie noch, hätten wir uns bei der Grundversorgung zusätzlich abgesichert und stünden heute bereits ganz anders da.

Würde sich das erwähnte Misstrauen so tatsächlich abbauen lassen?

Grönemeyer: Dazu gehört natürlich mehr. Zum Beispiel ein gutes medizinisches Basiswissen. Das wäre für mich eine wichtige Voraussetzung. Wir brauchen dringend Gesundheitsunterricht in den Schulen: Gesundheitswissen, Ernährung, Aufklärung über Warnsignale, Hilfe zur Selbsthilfe, mentale und körperliche Stärkung des Immunsystems.

Wenn schon Kinder Zusammenhänge verstehen lernen, werden sie sich später unter anderem nicht mehr fragen, was ein Medikament im Körper bewirkt. Welche Nebenwirkung es haben könnte, welche Wirkung auch Heilpflanzen haben. Und sie verstehen in Arztgesprächen leichter, worum es geht – und kämen weg vom ungefilterten Doktor-Google.

Wir hätten dadurch aus meiner Sicht ein ganz anderes Gesundheitsbewusstsein in der Gesellschaft. Die Menschen würden viel achtsamer mit sich und ihrer Gesundheit umgehen – sich präventiv verhalten. Das würde dem System viel Geld einsparen und Vertrauen in die Medizin zurückbringen. Es geht um das Wohlbefinden von uns allen.

Zur Person: Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer (69) ist gelernter Radiologe und gilt als „Vater der Mikrotherapie“. Er ist Autor zahlreicher Gesundheitsratgeber, Fernsehgesicht und Gründer der mittlerweile verkauften Grönemeyer Institute. Bei FUNKE Zeitschriften erscheint seit 2019 sein eigenes Magazin.

Dieser Text erschien zuerst auf morgenpost.de