Bundesverfassungsgericht kippt Sperrklausel in Deutschland – Etablierte Parteien fürchten Zersplitterung der Volksvertretung in Straßburg

Karlsruhe. Wirklich überraschend ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die vom Bundestag beschlossene Dreiprozenthürde bei Europawahlen für verfassungswidrig zu erklären, nicht. Die Regelung verstoße gegen die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien, sagte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle bei der Urteilsverkündung. Bereits in seiner Entscheidung vom 9. November 2011, mit der das Gericht die Fünfprozentklausel kippte, hatte es sich argumentativ so weit festgelegt, dass ein anderes Urteil nur mit einer grundlegenden Revision der bisherigen Sichtweise begründbar gewesen wäre. Allerdings stimmten drei der acht Richter gegen die Entscheidung. Richter Peter Müller gab ein Sondervotum ab. Gegen die Dreiprozenthürde hatten 19 Gruppierungen geklagt, unter anderen die NPD, die Partei Die Freiheit, die Freien Wähler und die Piraten.

Konkret heißt das Urteil nun: Bei der Europawahl im kommenden Mai gibt es keine Sperrklausel in Deutschland, die den Einzug kleiner Parteien ins EU-Parlament verhindert. Grob gerechnet sichert den kleinen Parteien etwa ein Prozent der Wählerstimmen einen Platz in Straßburg. Die von den im Bundestag vertretenen Parteien befürchteten negativen Auswirkungen auf die Arbeit des EU-Parlaments seien durch den Einzug kleinerer Parteien nicht zu erwarten, weil die Verhältnisse im Europaparlament nicht mit denen im Bundestag vergleichbar seien, argumentierten die Karlsruher Richter.

Anders als der Bundestag beschließt das EU-Parlament keine Gesetze und kontrolliert nicht eine Regierung. Die Einflussmöglichkeiten des Europäischen Parlaments sind daher gering. Mit einer Entschließung vom November 2012 stieß das EU-Parlament zwar eine Erweiterung seiner Kompetenzen ab der kommenden Legislaturperiode an. Unter anderem sollen die Parteien Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten nominieren. „Die Entwicklungen stecken aber noch in den Kinderschuhen“, sagte Voßkuhle. Jedenfalls sei die entsprechende Entschließung so schwammig, dass mögliche „Auswirkungen für die Tätigkeit und Funktionsweise“ des neuen Parlaments für die kommende Wahlperiode „spekulativ“ blieben, heißt es in der Urteilsbegründung. Maßgeblich für die Beurteilung seien die „aktuellen Verhältnisse“. Und da sei nicht absehbar, „dass die angestoßene politische Entwicklung ohne eine Sperrklausel im deutschen Europawahlrecht zu einer Funktionsbeeinträchtigung des Parlaments führen könnte“.

Sollten sich die Verhältnisse in Straßburg in der Zukunft ändern, wenn etwa das Europäische Parlament ähnlich wie der Bundestag eine stabile Mehrheit für die Wahl und Unterstützung einer Regierung brauche, sei der „nationale Wahlgesetzgeber jederzeit in der Lage zu reagieren“. Nicht ohne Grund unterliege das Wahlrecht einer strengen Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht, sagte Voßkuhle zur aktuellen Entscheidung. Gerade bei der Wahlgesetzgebung bestehe nämlich die Gefahr, „dass die jeweilige Parlamentsmehrheit sich statt von gemeinwohlbezogenen Erwägungen vom Ziel des eigenen Machterhalts leiten lässt“. Oder anders ausgedrückt, mit einer Sperrklausel sichern sich die im Bundestag vertretenen Parteien künftige Mehrheiten. Bei der Europawahl 2009 waren 2,8 Millionen Stimmen der Fünfprozenthürde zum Opfer gefallen. Die daraus resultierenden acht Sitze fielen denen zu, die sich im Bundestag für eine Sperrklausel einsetzten: Union, SPD, FDP und Grünen.

In der deutschen Politik stieß das Urteil auf ein geteiltes Echo. CDU/CSU, SPD und die Grünen, die die beanstandete Sperrklausel gemeinsam mit der FDP im Bundestag beschlossen hatten, äußerten Bedauern. Positiv reagierten hingegen die zahlreichen Kleinparteien, die nach Karlsruhe gezogen waren, sowie die Linke, die schon im Juni im Bundestag gegen die Dreiprozenthürde gestimmt hatte.

Die Bundesregierung zeigte sich zurückhaltend. Regierungssprecher Steffen Seibert wollte das Urteil ausdrücklich nicht kommentieren. Innenminister Thomas de Maizière (CDU) betonte jedoch, Deutschland habe mit Sperrklauseln gute Erfahrungen gemacht. Sie stärkten die Handlungsfähigkeit der Parlamente. Justizminister Heiko Maas (SPD) hob hervor, dass Schutzklauseln auch weiterhin möglich seien. Der stellvertretende CDU-Vorsitzende Thomas Strobl warnte vor einer Zersplitterung des Europaparlaments: „Wenn wir als Deutsche nur 96 Abgeordnete stellen, macht es schon etwas aus, ob diese sich auf sechs oder auf zwölf Parteien verteilen.“ SPD-Vize Ralf Stegner sagte, das Urteil „ebnet den Weg für Rechtspopulisten und Anti-Europäer, von denen es im Europäischen Parlament schon genug gibt.“ SPD-Bundestagsfaktionschef Thomas Oppermann warnte vor einer Zersplitterung des Parlaments. Und Rebecca Harms, Fraktionschefin der Grünen im EU-Parlament, übte Richterschelte: „Das Urteil zeugt von Unkenntnis oder Respektlosigkeit gegenüber dem Europäischen Parlament.“