Die Abschaffung der Sperrklausel ist bei Bezirkswahlen sinnvoll, aber kaum auf EU-Ebene.

Sehr kurz gefasst und ein wenig böse lautet die Begründung des Bundesverfassungsgerichts für die Abschaffung der Dreiprozenthürde bei den Europawahlen: Das EU-Parlament ist so unbedeutend, dass ein paar Splitterparteien nicht stören. In Brüssel und Straßburg muss das Parlament – anders als etwa in Berlin – eben keine Regierung wählen und nicht für stabile Mehrheiten in Form von Koalitionen zur Abarbeitung eines Regierungsprogramms sorgen.

Einmal abgesehen davon, dass begründete Zweifel bestehen, ob das höchste deutsche Gericht die Tendenz der demokratischen Entwicklung auf europäischer Ebene richtig deutet, weist der Spruch der Karlsruher Richter auf einen Hamburger Problemfall. Das Argument mangelnden gestalterischen Einflusses, kurzum fehlender Macht, lässt sich direkt auf die sieben Bezirksversammlungen übertragen, deren Zusammensetzung parallel zum EU-Parlament am 25. Mai neu bestimmt wird. Die „Parlamente“ in Mitte, Wandsbek oder Altona sind im Grunde Verwaltungsausschüsse, die Appelle an die Behörden richten können. Die wichtigen Entscheidungen fallen in der Bürgerschaft. Im Zweifel kann der Senat eine ihm missliebige Bezirksentscheidung „evozieren“, also praktisch für ungültig erklären.

Erst im vergangenen Jahr hatten SPD, CDU und Grüne in der Bürgerschaft einen Antrag beschlossen, der die Dreiprozenthürde bei Bezirkswahlen in die Verfassung schreibt. Das war recht trickreich, denn die Festschreibung der Prozenthürde im einfachen Wahlgesetz hatte das Hamburgische Verfassungsgericht 2013 gekippt. Die Richter hatten, wie jetzt ihre Karlsruher Kollegen, schon damals die verfassungsrechtlich herausragende Bedeutung des Grundsatzes betont, dass jede Wählerstimme gleich viel wert sein muss. Es darf nicht sein, dass ein Kreuz für eine Splitterpartei „unter den Tisch“ fällt.

Viel spricht dafür, dass das Verfassungsgericht nach den Bezirkswahlen erneut angerufen wird. Nur ist die Position von SPD, CDU und Grünen nach dem Karlsruher Urteil erheblich schwächer geworden. Ein Bündnis mehrerer Organisationen mit dem Verein „Mehr Demokratie“ an der Spitze, das die Dreiprozenthürde in den Bezirken kippen will, darf sich bestätigt fühlen und hoffen.

Und was ist eigentlich so schlimm daran? Die Begründung für die Sperrklausel, die früher auch auf Bezirksebene sogar bei fünf Prozent lag, ist stets gleich: Neben der Sicherung der Funktionsfähigkeit des Parlaments soll die Hürde den Einzug extremistischer Parteien wie der NPD verhindern.

Vielleicht hilft der Blick über den Tellerrand: Nur in Hamburg und Berlin gibt es heute noch auf kommunaler Ebene Sperrklauseln, aus den Gemeinde- oder Kommunalverfassungen anderer Länder sind sie mittlerweile gestrichen. Von einem rapiden Ansehensverlust der Stadtverordnetenversammlungen oder Gemeindevertretungen ist nicht die Rede – jedenfalls nicht aus diesem Grund. Für den Verzicht auf eine Sperrklausel spricht zudem, dass die Beteiligung an der demokratischen Willensbildung so erhöht wird. Neue Gruppierungen und Wählervereinigungen – es gibt ja nicht nur Radikale – erhalten so eher eine Chance zur Partizipation.

Zurück zum EU-Parlament: Hier ist die Lage anders. Fast alle EU-Staaten haben Sperrklauseln, hier bildet Deutschland die Ausnahme. Hinzu kommt: Wer die europäische Einigung ernst nimmt, dem muss an einem starken EU-Parlament gelegen sein. Es wird ein mühsamer Weg sein, aber das Brüsseler Parlament wird weitere Rechte und Kompetenzen erhalten (müssen) und damit immer mehr zu einem „echten“ Parlament werden. Auch wenn die Karlsruher Richter jetzt sagen, dass man später eine Sperrklausel wieder einführen könnte: Ihre Entscheidung wirkt merkwürdig rückwärtsgewandt und wenig mutig.

Der Autor leitet das Landespolitik-Ressort des Abendblatts