Bundestagswahl

Twittern allein reicht für die Parteien nicht

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Egbert Nießler

81,8 Prozent der Hamburger sind online. Im Netz informieren sie sich auch über Politik. Vertrauen genießen bei den Wählern aber vor allem Fernsehen und Zeitungen. Und die Volksvertreter sind noch nicht alle in den neuen Medien angekommen.

Barack Obama hatte im Wahlkampf im Jahr 2008 als erster US-Präsidentschaftskandidat auf die sozialen Netzwerke gesetzt – und gewonnen. Seitdem spielen Facebook, Twitter und Co. auch hierzulande bei politischen Themen eine Rolle. Zumindest theoretisch. In der Praxis aber setzt die SPD zum Beispiel auf ganz traditionelle Hausbesuche. An fünf Millionen Türen wollen die sozialdemokratischen Wahlwerber bis zum Sonntag geklingelt haben. Ein Anachronismus oder ein den deutschen Realitäten entsprechendes Vorgehen?

Wohl eher Letzteres: Nicht einmal jeder fünfte Wahlberechtigte in Deutschland möchte über soziale Medien von Parteien und Volksvertretern angesprochen werden. 61 Prozent der potenziellen Wähler geben an, Social Media nicht einmal zu nutzen. Das hat eine Umfrage im Auftrag von wahllos. de, dem Online-Magazin der Axel-Springer-Akademie, und der Initiative ProDialog ergeben. Und eine Erhebung des Marktforschungs- und Beratungsinstituts YouGov zeigt, dass soziale Medien nur von elf Prozent der Befragten als Informationsquelle für tagespolitische Themen und Nachrichten genutzt werden. Informationsquelle Nummer eins für Politikthemen ist demnach das Fernsehen. Es wird von 74 Prozent der Befragten häufig bis sehr häufig genutzt. Die schon mehrfach totgesagten Tageszeitungen liegen gleichauf mit dem Radio auf Rang zwei. Die Hälfte der Befragten gibt an, sich sehr häufig oder häufig mithilfe des traditionellen Printmediums über die Tagespolitik zu informieren. Über Nachrichtenportale im Internet informieren sich 42 Prozent der Befragten.

Im Vergleich zu den klassischen Medien werden soziale Medien zwar weniger oft genutzt, sind aber besonders bei Jüngeren eine beliebte Informationsquelle – auch in Sachen Politik. Allgemein betrachtet sind die jüngeren Befragten unter 35 Jahre bei der Informationssuche eher im Internet unterwegs, Online-Nachrichtenportale werden von ihnen fast ebenso häufig genutzt wie TV. Tageszeitungen liegen auf Rang vier. Doch was die Glaubwürdigkeit politischer Einträge in sozialen Medien betrifft, sind die Befragten eher kritisch: 38 Prozent empfinden politische Informationen in sozialen Netzwerken als nicht vertrauenswürdig. In Bezug auf Vertrauen stehen die Tageszeitungen bei Jung und Alt sehr hoch im Kurs. Bei den unter 35-Jährigen sogar auf Rang eins vor TV und Radio. Die sozialen Netzwerke wie Facebook und Twitter belegen den letzten Platz.

Soziale Medien sind jedoch mehr als nur eine reine Informationsquelle. Sie dienen auch als Plattform zur aktiven Meinungsäußerung. Was heißt das nun für die politische Kommunikation? Der Hamburger Social-Media-Experte Martin Fuchs sagt: „In Social Media ist es wichtig, dass man die zwei bis drei Prozent Multiplikatoren, also Journalisten, Blogger und politisch Aktive, erreicht, die in ihrem Freundeskreis als politische Fachleute wahrgenommen werden.“ Social Media kann also zur Ansprache der ohnehin Interessierten dienen, die im Netz gezielt politische Inhalte konsumieren. „Die Multiplikatoren tragen diese Inhalte dann in die Breite, zum Beispiel beim Gartenfest, beim Bier oder via Zeitung“, sagt Fuchs, der den Blog „Hamburger Wahlbeobachter“ betreibt. Er berät Institutionen und Politik bei der Nutzung sozialer Medien. Zuvor arbeitete er mehrere Jahre als Politik- und Strategieberater in Berlin und Brüssel.

Das größte Potenzial schlummert also noch im Netz. Immerhin sind 81,8 Prozent der Hamburger online. Allein das weltweit größte soziale Netzwerk Facebook hat hier geschätzte 900.000 Nutzer, deutschlandweit sind es bereits mehr als 25 Millionen. Hamburger Politiker sind nach Angaben von Fuchs im Netz überraschend präsent: Alle 13 aktuellen Bundestagsabgeordneten nutzen mindestens ein soziales Netzwerk für den Dialog mit dem Bürger – womit die Hamburger Politiker gemeinsam mit den saarländischen zu den aktivsten in Deutschland gehörten. „Allerdings nutzen die wenigsten Kandidaten Facebook und Twitter wirklich für den Dialog, Wikipedia-Einträge sind veraltet und Fragen auf der Webseite abgeordnetenwatch.de warten seit Wochen auf eine Antwort“, meint Fuchs. Die meisten Bundestagsabgeordneten suchen lediglich die Öffentlichkeit und eine Bühne zur Selbstdarstellung.

Ein Großteil der Web-2.0-Aktivitäten wirke wie eine Pflichtveranstaltung: Agenturen und Parteien raten den Kandidaten, auch die neuen Medien nicht zu vernachlässigen. Also twittern die meisten los. Irgendwie. Die wenigsten Wahlkämpfer aber nutzen nach Meinung von Fuchs die elektronischen Möglichkeiten richtig: „Gerade Social Media bietet die Chance, Zielgruppen (Politikverdrossene- und -ferne, Jung- und Erstwähler, Migranten, mobile Bürger) genau und ohne Streuverluste anzusprechen. Denn: Auf den herkömmlichen Wegen erreichen Politiker viele Wähler nicht mehr.“ Seiner Meinung nach sollten eine aktuelle Webpräsenz, ein gepflegter Wikipedia-Eintrag, geschicktes Suchmaschinen-Marketing und soziale Netzwerke heute zur Grundausstattung eines Politikers gehören, der wahrgenommen werden möchte. Besonders da Tage vor der Wahl noch mehr als 60 Prozent der Wähler unentschieden sind, wem sie ihre Stimme geben.

Bisher fehlen nach der Einschätzung von Fuchs dem Onlinewahlkampf – nicht nur in Hamburg – entscheidende Innovationen. Viele Ideen, die sich die deutschen Wahlkampfmanager in den USA abgeschaut haben, ließen sich aufgrund des deutschen Datenschutzes oder fehlender Ressourcen nicht umsetzen. Ideen wie das „Wahlprogramm in 2 Minuten“, das die Grünen als digitale Version ins Netz gestellt haben, Mitmachportale wie mitmachen.spd.de oder auch das ambitionierte eigene TV-Programm der CDU (cdu.tv) zeigten aber, dass die Parteizentralen stärker auf das Netz setzen.

Das Verständnis für die neuen Kommunikationskanäle wachse. So ließen Grüne und CDU auch einfache Parteimitglieder im Namen der Parteien unter @wirsindcdu und @wirsindgruen twittern. Dieser gewollte Kontrollverlust steigere das Vertrauen in die Partei – nicht nur bei den eigenen Sympathisanten.

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