Barack Obamas Berliner Rede war inhaltlich zwar keine historische Großtat, doch sie hat eines deutlich gezeigt: Die USA brauchen Deutschland als Partner.

Hamburg. Fast fünf Jahre hat es gedauert, bis Barack Obama in die deutsche Hauptstadt zurückkehrte, um in Berlin eine Grundsatzrede zu halten. Diesmal als Präsident, und nicht nur an der Siegessäule, sondern direkt am symbolträchtigen Brandenburger Tor – was ihm Angela Merkel damals noch verwehrt hatte. Der amerikanische Präsident dürfte im Vorfeld seiner Berlin-Visite einiges Unbehagen gespürt haben – angesichts einer unausweichlichen Begegnung. Der mit sich selbst.

An jenem strahlenden Julitag des Jahres 2008 erschien Barack Obama den Deutschen als eine nahezu messianische Lichtgestalt, die sich anschickte, die politische Dunkelheit der Bush-Ära zu vertreiben. Der diesjährige Berlin-Besucher Obama hingegen ist ein Mann, der schmerzhaft auf menschliches Normalmaß geschrumpft wurde. Das Skandal-Gefängnis Guantanamo steht immer noch; Obamas Politik der ausgestreckten Hand – ob gegenüber der Arabischen Welt, dem Iran, Russland oder Nordkorea – ist an Radikalität und Egoismen gescheitert; und der naiv auf Vorschuss zum Friedensnobelpreisträger gekürte US-Präsident hat weit mehr Menschen per Kampfdrohnen töten lassen als George W. Bush. Und nun mussten ausgerechnet die mit der Stasi-Vergangenheit gebrannten Deutschen auch noch erfahren, dass der US-Geheimdienst NSA ihre gesamte Kommunikation überwacht.

Unser Volk, das schon den charismatischen John F. Kennedy in seiner politischen Wirkmächtigkeit weit überschätzt hatte, neigt dazu, eine Basis-Wahrheit zu ignorieren: Ein US-Präsident hat vornehmlich die Aufgabe, die nationalen Interessen seines Landes wahrzunehmen – und nicht unseres.

Barack Obamas Berlin-Besuch ist Teil einer strategischen Frontbegradigung. Der erste „pazifische Präsident“, dem es ungeachtet jährlicher Asien-Visiten bisher nicht gelungen ist, Freundschaften im asiatisch-pazifischen Raum zu schließen und der obendrein ein bedenklich verhärtetes Verhältnis zu Russlands Präsident Wladimir Putin unterhält, musste dringend seine Versäumnisse gegenüber der europäischen Führungsmacht Deutschland aufholen. Großbritannien droht sich gerade in die Bedeutungslosigkeit zu katapultieren; und die Franzosen haben genug damit zu tun, sich zu bemitleiden. Hinzu kommt, dass die Staaten des Arabischen Frühlings wenig freundschaftliche Gefühle für Amerika hegen und die strategisch bedeutsame Türkei gerade ihr Ansehen im Westen schwer beschädigt.

Verhältnis ist erwachsener geworden

Obama kam, wie von Angela Merkel zu Recht betont, als Freund. Doch das Verhältnis zwischen den USA und Deutschland ist erwachsener geworden, weniger schwärmerisch und botmäßig auf deutscher Seite. Und: Nachdem die Deutschen die Amerikaner jahrzehntelang existenziell benötigt haben, brauchen sie uns nun offenbar auch ein wenig. Die atlantische Achse ist ohnehin für beide Seiten alternativlos. Was dringend notwendig tut, ist eine überzeugende gemeinsame Agenda. Obamas Abrüstungsinitiative als zweiter Aufguss seiner Pläne von 2009 ist dies sicher nicht. Die angestrebte Reduzierung der apokalyptischen Waffen um ein Drittel ist ohnehin weniger glühendem Friedenswillen geschuldet als vielmehr dem ungeheuren Kostendruck bei der Erhaltung der gigantischen Arsenale. Die Deutschen reißt man damit nicht aus dem Sessel. Ohne eine Einigung mit Russland bei dem geplanten Raketenabwehrsystem dürfte die Initiative ein weiteres Mal zum Rohrkrepierer werden. Die Russen fürchten, diese Raketen könnten den Amerikanern eine nukleare Erstschlagsfähigkeit verleihen.

Im Übrigen schlägt Obama im US-Kongress in dieser Hinsicht kaum weniger Widerstand entgegen als in Moskau. Russland hat auch damit zu tun, dass Europa für Washington plötzlich wieder interessanter geworden ist. Nicht zuletzt aufgrund seiner Schlüsselrolle im Syrien-Konflikt und seiner stürmischen Aufrüstung wird Moskau neben China wieder zum ernst zu nehmenden globalen Kontrahenten. Und Deutschlands Verhältnis zu den Russen kann den USA durchaus nützlich sein. Barack Obama benötigt einen starken Partner zur Umsetzung seiner politischen Strategie – und Deutschland gilt, wie der frühere US-Botschafter John Kornblum am Mittwoch in Berlin sagte, inzwischen als das drittwichtigste Land der Welt nach den USA und Russland.

Und für Obama, das haben seine letzten Reden gezeigt, hat Deutschland sogar in mancherlei Hinsicht eine Vorbildfunktion. Die notwendige gemeinsame Agenda könnte in der amerikanisch-europäischen Freihandelszone bestehen, die die mit Abstand größte der Welt wäre und naturgemäß verbindenden Charakter entfalten würde.

Inhaltlich ist Barack Obamas Rede keine historische Großtat; immerhin zeigte sie wieder seine Qualität als „Großer Kommunikator“ in der Tradition von Vorgängern wie Ronald Reagan und Bill Clinton. Mit der Wahl des Brandenburger Tors als Kulisse bezog sich Obama bewusst auf die historischen Verdienste der USA um die Freiheit der Stadt. Anders jedoch als Reagan oder Clinton und auch als sein Vorgänger George W. Bush ist Obama aufgrund seiner akademischen Kühle und fremdelnden Natur wenig fähig, emotional wirksame Beziehungen zu anderen Weltführern einzugehen. Doch in der nüchternen Rationalität liegt die Chance auf eine gedeihliche Zusammenarbeit mit der deutschen Kanzlerin, die sehr wohl wusste, was sie tat, als sie Obama in Berlin duzte. Hier wurde ein Signal der Einigkeit gesendet – an Russen, Franzosen und jeden, den es angeht in der Welt. Doch im Unterschied zu Obama kennt Merkel die Grenzen des politisch Machbaren sehr genau.

Der Begriff „Frieden mit Gerechtigkeit“ durchzog Obamas verbalen Parforceritt durch die Krisen- und Konfliktfelder der Welt, der sich mit seinen diversen Appellen mindestens ebenso an die Amerikaner richtete wie an die Deutschen. Besondere Wucht entfaltete der Begriff jedoch nicht. Dass ein amerikanischer Präsident nicht mehr so leicht wie früher mit einem einzigen prägnanten Satz wirken kann – „Ich bin ein Berliner“ (Kennedy) „Mr. Gorbatschow, reißen Sie diese Mauer ein“ (Reagan) – liegt daran, dass die politische Architektur der Welt erheblich komplexer geworden ist; die USA sind nun Teil einer sich ständig wandelnden multipolaren Struktur. Vor dem Hintergrund eines veränderten bilateralen Verhältnisses hatte es durchaus eine tiefere Bedeutung, als Barack Obama in der Berliner Hitze sein Jackett auszog und anmerkte, dass man es unter Freunden ruhig etwas informeller angehen lassen könne.