Nach dem Anschlag in Boston und der Jagd auf die Attentäter streitet Deutschland um die politischen Konsequenzen

Washington/Berlin. Die beste Nachricht aus Boston muss lauten: Alle 57 Opfer der Anschläge auf den Marathonlauf, die noch in Krankenhäusern liegen (drei davon in kritischem Zustand) leben. Als gute Nachricht mag gelten, dass ihr Peiniger, Dschochar Tsarnaev, schwer verletzt und noch nicht ansprechbar in der Klinik liegt, in der seine Opfer behandelt werden und in der sein Bruder Tamerlan nach dem Feuergefecht in der Nacht zum Freitag starb. Eine Blutspur, die zu einem Boot in einem Garten in Watertown führte, hatte Dschochar, 19, verraten. Seine Körperwärme verriet ihn an die Infrarotkamera eines Hubschraubers. Der Zugriff mit fünf Blendgranaten und einem Bombenräum-Roboter stieß nicht auf Widerstand. Die befreiten Leute von Watertown applaudierten, Boston regte sich nach tagelanger Erstarrung: Es herrschte ein Überschwang, als habe ein langer Krieg geendet.

Überwachungskameras hatten am Rande des Marathons zwei Männer mit Mützen und Sprengstoff-Rucksäcken gefilmt. Die US-Bundespolizei FBI veröffentlichte Bilder der beiden. Der Chefermittler sagte: „Heute nehmen wir die Hilfe der Öffentlichkeit in Anspruch, um diese Verdächtigen zu identifizieren.“ Die Jagd von Boston war eine Kombination aus akribischer Ermittlungsarbeit, Mithilfe der Bevölkerung – und der Videoüberwachung.

Der schwelende Streit über den Einsatz dieses Hilfsmittels ist damit auch in Deutschland erneut entfacht. Die Politik diskutiert: Kann die Beobachtung des öffentlichen Raumes helfen, Verbrechen zu verhindern? Oder würde die Bundesrepublik zum Überwachungsstaat ausufern? Die Argumente fliegen dabei nicht nur zwischen Regierung und Opposition hin und her. Auch Union und FDP liegen in dieser Frage auseinander.

CDU und CSU verweisen auf den letzten Anschlagsversuch in Deutschland: Am 10. Dezember 2012 entging Bonn nur knapp einem Attentat. Ein Unbekannter hatte am Hauptbahnhof einen Sprengsatz in einer blauen Sporttasche abgestellt. Glücklicherweise explodierte die Bombe nicht. Seit nunmehr fünf Monaten suchen die Ermittler nach dem mutmaßlichen Täter. Ein schneller Fahndungserfolg wie in Boston gelang ihnen nicht. Ob die Tat überhaupt aufgeklärt werden kann, steht in den Sternen – was auch etwas mit Videokameras zu tun hat.

Zwar hatten die Überwachungskameras eines Fast-Food-Restaurants einen bärtigen Mann mit Tasche, Strickmütze, schwarzer Sporthose und Handschuhen gefilmt. Die Kameras am Bahnsteig selbst hatten den Vorgang nicht gespeichert. Wie in Boston das FBI, so veröffentlichte auch das Bundeskriminalamt Aufnahmen der Überwachungskameras und bat die Bevölkerung um Mithilfe. Doch entscheidende Hinweise gab es hierzulande nicht. „Die Qualität der Videoaufnahmen ist wohl zu schlecht“, sagte ein Ermittler der „Welt“.

Der Verfassungsschutz zeigt sich angesichts der Nachrichten aus den USA besorgt, dass der versuchte Anschlag von Bonn noch immer nicht aufgeklärt ist. „Wir müssen davon ausgehen, dass ein oder mehrere Täter im Land sind, die abermals einen Versuch unternehmen und dann vielleicht eine funktionsfähige Bombe einsetzen“, sagte der Präsident des Bundesamtes, Hans-Georg Maaßen, der „Frankfurter Rundschau“.

„Der Polizei fehlen wichtige Ermittlungsansätze, weil auf dem Bahnsteig keine Videoaufnahmen gemacht wurden“, kritisiert deshalb Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU). In Boston hätten Videos „wichtige Täterhinweise und schnell verfügbare Ermittlungsansätze geliefert“. Dies zeige, dass die Videoüberwachung an Orten mit Menschenaufläufen, an Kriminalitätsschwerpunkten und im öffentlichen Personenverkehr nötig sei: „Bei der Beschaffung von Zügen muss die Ausstattung mit modernster Videotechnik künftig zum Standard gehören.“

Ähnlich argumentiert Hans-Peter Friedrich (CSU). Nach Informationen der „Welt“ will der Innenminister mehr Mittel für Videoüberwachung im Haushalt 2014 beantragen. Scharfe Kritik erntet die Union aus der Opposition. Grünen-Spitzenkandidat Jürgen Trittin sagte im Wochenende: „Das ist eine Schäbigkeit aus der rechten Ecke.“ Wer Verbrechen verhindern wolle, müsse für mehr Präsenz der Polizei sorgen. SPD-Bundestagsgeschäftsführer Thomas Oppermann erklärte: „Es ist falsch, dass Innenminister Friedrich dieses Thema zum Gegenstand der parteipolitischen Auseinandersetzung macht. Notwendig wäre, diese Diskussion in aller Ruhe zu führen – und nicht immer nur dann, wenn es sich in einer tragischen Situation als opportun erweist.“

Doch nicht nur von den politischen Gegnern, auch vom Regierungspartner bekommt die Union Gegenwind. Ähnlich wie bei der Debatte um eine Vorratsdatenspeicherung hält die FDP die Sicherheitsgesetze für ausreichend. „Der fürchterliche Anschlag von Boston sollte nicht für eine innenpolitische Debatte instrumentalisiert werden“, sagte Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger der „Welt am Sonntag“. Deutschland verfüge über ausreichend Sicherheitsgesetze. Auch FDP-Präsidiumsmitglied Jörg-Uwe Hahn wies Forderungen nach einer Ausweitung der Videoüberwachung zurück. Der Bundesinnenminister nutze „die Vorfälle in Boston für seine politischen Ziele aus“, sagte Hahn der „Welt“.