In Berlin beginnen neue Gespräche über Wahlrecht. Opposition sieht gute Karten. Wahrscheinlich wird es wieder nur Übergangsregelung geben.

Berlin. Eine weitere Blamage können sich die Parteien nicht leisten. Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit gibt es in Deutschland derzeit kein gültiges Wahlgesetz. Vier Wochen nach dem letzten Urteil des Bundesverfassungsgerichts beginnen an diesem Dienstag in Berlin die Verhandlungen der Fraktionen über eine Neuregelung.

+++Hintergrund: Wahlrecht in Europa+++

Bereits 2008 hatte Karlsruhe den Bundestag beauftragt, das Wahlgesetz zu reformieren. Die Ende September 2011 von Union und FDP dann im Alleingang durchgesetzte Regelung hielt nicht einmal ein Jahr. Das fast noch druckfrische Gesetz wurde Ende Juli von den Richtern für verfassungswidrig erklärt. Sie ordneten eine zügige Korrektur in drei wichtigen Punkten noch vor der nächsten Bundestagswahl in einem Jahr an. Ansonsten werde man selbst ein Übergangswahlrecht vorgeben, drohte der Zweite Senat dem Gesetzgeber.

Beanstandet wurde zum einen der Effekt des sogenannten negativen Stimmengewichts. Dieses kann dazu führen, dass die Abgabe einer Stimme der jeweiligen Partei bei der Sitzberechnung sogar schadet. Dieser Mechanismus sei durch die Reform der Koalition nicht beseitigt worden, rügten die Richter. Ebenfalls als grundgesetzwidrig wurde die Vergabe von Zusatzmandaten im Rahmen der sogenannten Reststimmenverwertung gewertet. Dabei werden Stimmen, die bei der Verteilung in einem Land ohne Erfolg blieben, bundesweit aufsummiert.

Mit überraschender Deutlichkeit verwarf das Gerichts zudem die bisherige Praxis bei den Überhangmandaten. Sie entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate erhält, als ihr nach den Zweitstimmen an Sitzen zustehen. Künftig sind mehr als etwa 15 solcher Zusatzsitze ohne einen proportionalen Ausgleich nicht mehr erlaubt. Bei der letzten Bundestagswahl gab es davon 24, die alle an die Union fielen.

+++Eine Klatsche für die "Arroganz der Macht"+++

Die Überhangmandate dürften der eigentliche Knackpunkt der anstehenden Verhandlungen werden, die wegen des näher rückenden Wahltermins möglichst im November abgeschlossen werden sollen. Danach muss noch der Bundestag beraten und entscheiden.

Eine vom Gericht vorgeschriebene Begrenzung dieser Zusatzsitze ist jedoch schwierig zu regeln. Schon aus verfassungsrechtlichen Gründen ist es kaum möglich, „überschüssig“ gewählten Direktkandidaten ihr Mandat wieder wegzunehmen.

Die SPD will deshalb – wie in vielen Landtagswahlen üblich - Ausgleichsmandate einführen, um bei der Sitzverteilung im Parlament das Verhältnis der Zweitstimmen genau einzuhalten. Die Folge davon wäre jedoch, dass der Bundestag deutlich mehr Abgeordnete bekäme. Dies soll durch eine Verringerung der Wahlkreise verhindert werden. Grüne und Linke möchten mit Verrechnungs-Modellen diese Mandate neutralisieren.

CSU-Chef Horst Seehofer hatte vor kurzem zum Ärger der CDU angekündigt, er habe kein Problem damit, künftig alle Überhangmandate auszugleichen. Falls die Union insgesamt auf diese Linie einschwenkt, könnten die Verhandlungen relativ schnell abgeschlossen werden. Doch damit wird nicht gerechnet. Die Opposition sieht sich nach dem Erfolg ihrer Klagen in Karlsruhe jedoch am längeren Hebel, weil sich die Koalition einen weiteren Alleingang kaum leisten kann.

Wegen der knappen Zeit dürfte es für 2013 aber ohnehin nur auf eine Übergangslösung hinauslaufen. Eine dauerhafte Regelung etwa mit einem Neuzuschnitt der Wahlkreise oder mit anderen Modellen ist bis zum Wahltag im Herbst kommenden Jahres nicht mehr zu schaffen.

Sollte es danach wieder zu einer großen Koalition kommen, könnten sogar Pläne aus der Schublade geholt werden, die Union und SPD bereits bei ihrem ersten Bündnis von 1966 bis 1969 fest vereinbart hatten: ein Mehrheitswahlrecht nach britischem Vorbild, mit dem die Tücken des komplizierten deutschen Wahlrechts mit einem Schlag beseitigt werden könnten.