Deutschland ringt noch um ein funktionierendes und verfassungsgemäßes Wahlrecht. Vielleicht hilft als Anregung ein Blick ins Europäische Ausland.

Berlin. In den Ländern der Europäischen Union werden Parlamentarier nach unterschiedlichen Systemen bestimmt. In einigen Staaten gilt das Verhältniswahlrecht, nach dem die Zusammensetzung des Parlaments den tatsächlichen Prozentzahlen der Parteien bei den Wahlen entspricht. In anderen Ländern ziehen nach dem Mehrheitswahlrecht nur die Sieger im Wahlkreis ins Parlament ein. Deutschland verbindet Elemente beider Systeme. Mit der Zweitstimme für die Landeslisten der Parteien bestimmen Wähler die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag, mit der Erststimme entscheiden sie sich für einen Direktkandidaten im Wahlkreis.

GROSSBRITANNIEN: Die Abgeordneten des Unterhauses werden nach dem relativen Mehrheitswahlrecht in Wahlkreisen gewählt. Der Kandidat mit den meisten Stimmen kommt als Abgeordneter seines Wahlkreises ins Parlament, alle unterlegenen Mitbewerber gehen leer aus. Der prozentuale Stimmenanteil einer Partei ist demnach nicht für die Sitzverteilung im Unterhaus entscheidend. So erreichten etwa die Liberalen bei den Wahlen 1983 bei 25,4 Prozent 23 Sitze im Unterhaus, während es die Labour Party mit 27,6 Prozent auf 209 Sitze brachte. 2010 scheiterten die Liberaldemokraten mit einer Wahlrechtsreform. Bei einem Referendum sprachen sich rund 70 Prozent der Briten für das bisherige Wahlsystem aus.

FRANKREICH: Das geltende Mehrheitswahlrecht gibt kleinen Parteien ohne ein Bündnis mit einer größeren kaum Chancen auf Sitze in der Nationalversammlung. Erreicht ein Kandidat in der ersten Runde mehr als die Hälfte der abgegebenen Stimmen sowie mindestens ein Viertel der Stimmen der eingeschriebenen Wähler, zieht er ins Parlament ein. In den anderen Wahlkreisen gibt es eine zweite Runde mit all jenen Kandidaten, die mindestens 12,5 Prozent der in einem Wahlkreis möglichen Stimmen erhalten hatten. Zum Sieg reicht dann die relative Mehrheit.

ITALIEN: Nachdem Rom das Verhältniswahlrecht 1994 abgeschafft hatte, wurden drei Viertel der Abgeordneten durch Mehrheitswahlrecht bestimmt, ein Viertel durch Verhältniswahl. 2005 führte die Regierung unter Silvio Berlusconi das alte Verhältniswahlrecht wieder ein, allerdings mit Sonderregeln. Bei der Abstimmung über das Abgeordnetenhaus wird die Auszählung nun auf landesweiter Ebene vorgenommen. Das Wahlrecht garantiert dem Parteienbündnis mit den meisten Stimmen eine Mehrheit von 340 Sitzen oder 54 Prozent. Bei der Abstimmung über den Senat erfolgt die Auszählung auf regionaler Ebene. Ein Bündnis, das in einer Region vorne liegt, erhält mindestens 55 Prozent der Sitze, die insgesamt für das Gebiet zu vergeben sind. Wegen der verschiedenen Auszählungsarten kann es in Abgeordnetenhaus und Senat zu unterschiedlichen Mehrheiten kommen.

GRIECHENLAND: In Athen hält das Wahlrecht einen besonderen Bonus für den Sieger bei Parlamentswahlen bereit. Die stärkste Partei erhält einen Zuschlag von 50 Sitzen in der Volksvertretung. 250 der 300 Sitze im Parlament werden mit der einfachen Verhältniswahl verteilt. Damit sollen die Möglichkeiten für die Bildung starker Regierungen erhöht werden. Sollte dennoch keine Partei die absolute Mehrheit erreichen, ist ein mehrtägiges Verfahren zur Bildung eine Koalitionsregierung vorgesehen.

NIEDERLANDE: Das Verhältniswahlrecht soll das Votum der Bürger so exakt wie möglich in der Zusammensetzung des Parlaments widerspiegeln. Eine Sperrklausel wie die Fünf-Prozent-Hürde in Deutschland gibt es nicht. Dadurch haben auch kleine Parteien Chancen, Mandate zu erringen. Um einen der 150 Sitze in der „Tweede Kamer“ zu bekommen, muss jemand lediglich 0,67 Prozent der Wählerstimmen gewinnen. Das führt dazu, dass im Parlament viele Parteien mitreden und dass sich die Regierungsbildung schwierig gestaltet. Meist werden mindestens drei Parteien benötigt, um die absolute Mehrheit zu erreichen