Das Rätsel um die Ursachen für den Amoklauf von Tim K. beschäftigt Ermittler und Wissenschaftler gleichermaßen.

Das Rätsel um die Ursachen für den Amoklauf von Tim K. beschäftigt Ermittler und Wissenschaftler gleichermaßen. Wo kann das Motiv für das Blutbad liegen, bei dem der 17-Jährige 15 Menschen und danach sich selbst getötet hat? Und was war letztlich der Auslöser für diese Explosion der Gewalt bei einem Jugendlichen, der von Menschen aus seinem Umfeld sehr unterschiedlich beschrieben wird?

Genauso rätselhaft wie der offenbar gefälschte Eintrag in einem Internet-Chatroom ist die Frage der psychischen Erkrankung von Tim K. Auf der Pressekonferenz, einen Tag nach dem Amoklauf, hatte Baden-Württembergs Innenminister Heribert Rech (CDU) bekannt gegeben, dass Tim K. unter Depressionen litt und sich deswegen in psychiatrische Behandlung begeben, die Therapie aber später nicht fortgesetzt hatte.

Dagegen glaubt Professor Ulrich Hegerl nicht, dass eine depressive Erkrankung bei dieser schrecklichen Tat eine Rolle gespielt hat. Für den Vorsitzenden der Stiftung Deutsche Depressionshilfe steht fest, dass Tim K. auf keinen Fall als akut depressiv Erkrankter diese Morde begangen haben kann. "Wenn man depressiv ist, dann hat man keinen Antrieb, keinen Schwung", sagte Hegerl dem Hamburger Abendblatt. "Die Dinge fallen einem schwer. Man hat Schuldgefühle, sucht die Schuld aber bei sich und würde nie auf den Gedanken kommen, einfach loszuziehen und wildfremde Menschen oder auch entfernte Bekannte zu töten. Einem Depressiven liegt nichts ferner als so etwas. Dafür hat er weder die Energie noch die Emotionen. Bei einer Depression denkt man in keiner Weise an irgendwelche Gewalttaten gegen Dritte."

Wenn bei einem Depressiven Aggressionen hochkämen, seien die eher "gegen sich selbst gerichtet". Hegerl: "Die Tat von Winnenden ist völlig inkompatibel mit einer depressiven Erkrankung. Solch eine Tat und eine Depression - das ist diametral entgegengesetzt." An Depression Erkrankte seien oft sogar "äußerst fürsorgliche Menschen, die sich eher für andere aufopfern". Hegerl will nicht ausschließen, dass Tim K. "vielleicht unabhängig von der Tat" eine depressive Erkrankung gehabt hat. Die Krankheit, unter der in Deutschland etwa vier Millionen Menschen leiden, verlaufe in Episoden, zwischen denen die Menschen Monate oder auch Jahrzehnte beschwerdefrei sowie genuss- und leistungsfähig leben könnten.

Glaubt man dem Experten Hegerl, Direktor der Uni-Klinik Leipzig für Psychiatrie und Sprecher des Kompetenznetzes Depression, bleibt die Frage: Wie krank war Tim K. wirklich? Und weshalb genau hat er sich insgesamt fünfmal in psychiatrische Behandlung begeben?

Von einer psychischen Erkrankung haben Lehrer der kaufmännischen Schule "Donner + Kern" in Waiblingen, die Tim zuletzt besuchte, nichts bemerkt. Er wird dort als ganz normaler Schüler beschrieben. "Er war Poker-Fan, hatte Beziehungen zu Mitschülern, die Depression hat sich hier gar nicht gezeigt", sagte die 29 Jahre alte Stephanie Lipp. Tim K. strebte an der Privatschule, für die die Eltern 195 Euro im Monat bezahlten, die Fachhochschulreife an, entweder um danach an einer Hochschule zu studieren oder eine kaufmännische Ausbildung zu beginnen. Auch die Eltern hätten Interesse gezeigt. "Sie waren beim Elternabend und kamen auch zum Elterngespräch", sagte Lipp, die Tim K. insgesamt neun Monate unterrichtet hat.

"Hier hat er sich wohlgefühlt, er war gerne da", sagte auch Karl-Heinz Donner, der Inhaber der Schule. Auch er sucht nach Erklärungen für das Unfassbare. Es könne nur sein, dass sich Tim zu Hause oder im Freundeskreis nicht genug geschätzt gefühlt habe, mutmaßte der 59-Jährige. "Der Zorn hat sich nicht auf diese Schule bezogen - sonst hätte alles hier stattgefunden."

Unstrittig scheint bisher allein die mit den Jahren zunehmende Faszination, die die Waffen des Vaters auf den 17-Jährigen ausgeübt haben. "In vielen Fällen zeigen die Väter ihren Söhnen die Pistole und sind stolz darauf", sagte die Gießener Kriminologieprofessorin Britta Bannenberg der "Süddeutschen Zeitung". Die Waffe stifte Identität, verleihe ein Gefühl der Sicherheit, und viele Sportschützen wollten ihre Pistolen und Gewehre zu Hause aufbewahren. Das Problem dabei sei nur, so die Professorin, die als einen Forschungsschwerpunkt Amokläufe und Bedrohungen insbesondere an Schulen hat, dass "die jugendlichen Söhne immer wissen, wo die Waffe ist". So war es auch bei Tim K., der zudem noch den achtstelligen Zahlencode des Waffentresors des Vaters kannte.