Die Polizeigewerkschaft warnt: Es hat sich nichts verbessert. Grüne fordern ein Jahr nach dem Amoklauf ein Waffenverbot in Privathaushalten.

Berlin. Am Morgen des 11. März 2009 nahm Tim K. eine großkalibrige Pistole aus dem Kleiderschrank seiner Eltern. Anschließend machte er sich auf den Weg zu seiner alten Schule in Winnenden und gab mehr als hundert Schüsse auf seine ehemaligen Mitschüler und Lehrer ab. Bilanz dieses blutigen Tages: 16 Tote, Tim K. eingeschlossen.

Ein Jahr nach Winnenden schlagen Deutschlands Polizisten Alarm. "Es ist ein Skandal ersten Ranges, dass wir über jede Banane, die nach Deutschland eingeführt wird, immer noch besser Bescheid wissen als über die legalen Schusswaffen, die es bei uns gibt", sagte Konrad Freiberg, der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei dem Hamburger Abendblatt. Zwar sei infolge des Amoklaufs das Waffenrecht verschärft worden, aber in der Praxis habe sich diese Maßnahme nicht bewährt. "Theoretisch haben die Behörden jetzt zwar die Möglichkeit, unangemeldet Kontrollen bei Waffenbesitzern durchzuführen, aber praktisch fehlt ihnen das Personal dazu. Das ist der Widerspruch, den wir ein Jahr nach Winnenden erkennen müssen." Der Deutsche Bundestag hatte in der Gesetzesnovelle vom Juli 2009 als Reaktion auf das Massaker beschlossen, dass die Ordnungsbehörden künftig "verdachtsunabhängig die Einhaltung der Aufbewahrungsvorschriften in den Räumlichkeiten von Schusswaffenbesitzern überprüfen können". Im Rahmen einer solchen Kontrolle hätten die Ordnungsbehörden feststellen können, dass Tims Vater seine Beretta nicht - wie vorgeschrieben - in einem speziell gesicherten Waffenschrank aufbewahrte.

Nach Auffassung des SPD-Bundestagsabgeordneten Hermann Scheer, zu dessen Wahlkreis Winnenden gehört, ist die Gesetzesverschärfung ohnehin "an der Lebenswirklichkeit vorbei" gegangen: "Was nach Winnenden beschlossen wurde, hat an der Kernproblematik nichts geändert. In zu vielen Fällen werden private Waffen ungesichert gelagert. Das bestätigen die unangemeldeten Kontrollen, soweit sie stattgefunden haben." Scheer bleibt bei der Forderung, die er unter dem Eindruck des Amoklaufs erhoben hatte: "Die Schusswaffen müssen bei den Schützenvereinen zentral gelagert und eingeschlossen werden." Der ehemalige Bundeswehroffizier will das Problem in dieser Woche in der SPD-Bundestagsfraktion auf die Tagesordnung bringen.

Auch die Grünen sehen die Dringlichkeit, das Parlament erneut mit dem Thema zu befassen.

"Die Regierung ist nach dem Blutbad in Winnenden vor einer der einflussreichsten Lobbys im Lande eingeknickt, der Waffenlobby, und das ist unglaublich", sagte Grünen-Chefin Claudia Roth dem Abendblatt. "Wir verlangen im wahrsten Sinne des Wortes eine Abrüstung in Deutschland. Waffen dürfen nicht länger in Privathäusern aufbewahrt, sondern müssen zentral bei den Vereinen eingeschlossen werden. Und ein Sportschütze braucht weder großkalibrige Waffen, um seinen Sport auszuüben, noch 15 verschiedene Gewehre und Pistolen."

Die Bundestagsfraktion der Grünen bereitet in einem ersten Schritt eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung vor, um in Erfahrung zu bringen, ob die Verschärfung des Waffengesetzes überhaupt etwas gebracht hat. FraktionsVize Fritz Kuhn zeigte sich besorgt, dass CDU/CSU und FDP vorhaben könnten, das Waffenrecht mittelfristig sogar wieder aufzuweichen. "Auf Drängen der Liberalen wurde im Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass die unangemeldeten Kotrollen daraufhin überprüft werden sollen, ob sie zu 'unzumutbaren Belastungen' für die Waffenbesitzer führen."

Jürgen Kohlheim, der Vizepräsident des Deutschen Schützenbundes, dem 1,5 Millionen Sportschützen angehören, sieht keinen Anlass zur Besorgnis. "Gott sei dank ist es nur eine kleine Minderheit, die glaubt, sich nicht an die Regeln halten zu müssen. Nach dem Motto: 'Warum soll ich mir einen teuren Waffenschrank kaufen, wenn es der Kleiderschrank auch getan hat?' Wir weisen unsere Vereinsmitglieder aber bei jeder Gelegenheit darauf hin, dass die Waffen in speziellen Waffenschränken verschlossen werden müssen. In diesem Punkt gibt es keine Toleranz." Kohlheim vertritt die Auffassung, "dass Sportschützen und Jäger den Behörden inzwischen wohl flächendeckend nachgewiesen haben, dass sie ihre Waffen ordnungsgemäß aufbewahren".

Gewerkschaftschef Freiberg macht eine andere Rechnung auf: "Es fehlt ein zentrales Waffenregister. Die Polizei weiß deshalb nicht, wie viele angemeldete Waffen es in Deutschland gibt und wo sie lagern, denn die 570 Waffenrechtsbehörden, die es in der Bundesrepublik gibt, sind immer noch nicht miteinander vernetzt. Dafür wollen sich die Behörden bis 2012 Zeit lassen. Das ist zu lang." In Hamburg ist man bereits einen Schritt weiter als anderswo. Hier kann die Polizei per Knopfdruck auf alle Daten rund um den Besitz einer legalen Waffe zugreifen. "Um diese Datenbank zu dem zu machen, was sie ist, hat die zuständige Hamburger Polizeidienststelle bereits seit März 2007 alle legalen Waffenbesitzer in ihrem Zuständigkeitsbereich angeschrieben und aufgefordert, die gesetzeskonforme Aufbewahrung ihrer Waffen nachzuweisen", sagte Innensenator Christoph Ahlhaus (CDU) dem Abendblatt. "Mit Erfolg. Nur in Einzelfällen haben die Waffenbesitzer die erforderlichen Nachweise nicht erbracht. Und hier gilt: Wer in Hamburg sich nicht kooperativ zeigt, bekommt Besuch von unseren Kontrolleuren. Die Waffenrechtsnovelle als Folge der schrecklichen Ereignisse von Winnenden hat deshalb in Hamburg keine einschneidenden Veränderungen der Kontrollpraxis erforderlich gemacht."

Gegen den Vater von Tim K. ist im November 2009 Anklage erhoben worden. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Diplom-Mathematiker fahrlässige Tötung in 15 Fällen und einen Verstoß gegen das Waffengesetz vor. Der Prozess soll noch im März in Stuttgart eröffnet werden, wo die Familie K. seit der Tragödie von Winnenden lebt.