Durch die SPD ist ein Ruck gegangen - wenigstens ein kleiner. Jetzt wollen die Sozialdemokraten in die Offensive und eigene Leistungen hervorheben.

Berlin. "Jetzt geht's loo-os! Jetzt geht's loo-os!", singen die Nachwuchs-Genossen vergnügt, und im Saal werden "Wir für Frank"-Plakate geschwenkt. Seit zehn Minuten beklatscht der Parteitag die Rede des Kanzlerkandidaten, der sich für einen Moment hingesetzt hat und mit dem Taschentuch durchs Gesicht wischt. Frank-Walter Steinmeier erlebt einen Augenblick der Erschöpfung.

Eine volle Stunde hat der 53-Jährige hinter dem Mikrofon gekämpft. Hat eine für seine Möglichkeiten sehr gute Rede gehalten. Der zum linken Parteiflügel zählende schleswig-holsteinische SPD-Vorsitzende Ralf Stegner wird später sagen, dass der Kandidat eine Latte übersprungen hat, die sehr hoch aufgelegen habe. Und Peter Struck, der Bundestagsfraktionsvorsitzende, wird von einer "aufrüttelnden Rede für zweifelnde Geister" sprechen. Von der "besten Rede, die Frank-Walter Steinmeier als Kanzlerkandidat gehalten hat".

36 Wochen hat die SPD darauf warten müssen. Im September 2008 hatte die Parteispitze den Mann aus dem ostwestfälischen Brakelsiek ausgeguckt, einen Monat später war er zum Kanzlerkandidaten ausgerufen worden. Aber aufwärts war es nicht gegangen. Im Gegenteil. Die Partei hatte in Abgründe geschaut. Erst bei der hessischen Landtagswahl, dann bei der Europawahl.

Die hänge ihm noch in den Kleidern, hat Frank-Walter Steinmeier vor dem Sonderparteitag bekannt. Gestern hat er gesagt, die Europawahl sei "Mist" gewesen, und den Genossen und sich selbst postwendend mit der Bemerkung Mut gemacht, eine Europawahl sei das eine, eine Bundestagswahl aber etwas ganz anderes. "Das Ding ist offen", hat Steinmeier den Parteitagsdelegierten in Berlin zugerufen, und das war genau das, was sie hören wollten.

Ein Ruck ist durch die SPD gegangen. Kein großer, aber wenigstens ein kleiner. Und wenn Steinmeier seine parteiinternen Skeptiker vielleicht auch nicht restlos überzeugen konnte, dann werden sie zumindest begriffen haben, dass es jetzt kein Zurück mehr gibt. Steinmeier hat diejenigen, die seine Kandidatur bisher eher lustlos unterstützt haben, gestern am Portepee gefasst. Er wolle anpacken und gestalten, hat er gesagt. "Mit euch zusammen." Aber es müsse mehr getan werden als in den letzten Wochen. "Wir müssen rausgehen. In die Wohngebiete und Einkaufszonen. Zu den Straßen- und Kinderfesten. Zum Seniorennachmittag, vor die Betriebstore und in die Vereine."

Dafür haben sie ihren Kandidaten beklatscht, wohl wissend, dass der nun auch Taten sehen will. Wie hat Steinmeier freundlich, aber nachdrücklich gesagt? "Ihr alle werdet die Botschaft nach draußen tragen!" Und die Botschaft lautet: "Schwarz-Gelb darf keine Mehrheit erhalten, weil die Ideologie, die uns in die Krise geführt hat, sicherlich nicht die Antwort auf die Krise sein kann." Das fand den ungeteilten Beifall der 480 Delegierten. Genauso wie Steinmeiers Versprechen, dass man der Union die bisherige Rollenverteilung nun nicht mehr durchgehen lassen werde.

Von wegen "die Union, dass sind die, die nachher alles vorher gewusst haben, aber wir sind die, die vorher die Arbeit gemacht haben". Damit sei jetzt Schluss! "Alles, was Deutschland in den letzten Jahren vorangebracht hat", so Steinmeier leidenschaftlich, "alles, was dieses Land vor der Krise gestärkt und in der Krise zusammengehalten hat, kam von uns." Zur Freude der Genossen hat der Kanzlerkandidat anschließend seine Ricola-Nummer abgezogen. Nach dem Motto: Wer hat den Kinderbonus und das Schulstarterpaket erfunden? Die Abwrackprämie? Die Begrenzung der Managergehälter? "Die Es-Pe-De!", schallte es ihm da zunehmend fröhlicher entgegen.

Dass es in dieser SPD immer noch gut ankommt, wenn einer - wie Steinmeier - sagt, dass er "in einem Elternhaus ohne Klavier und Bibliothek" aufgewachsen ist - geschenkt. Dass einer, dem fast schon öffentliches Mitleid galt, mit dem Rücken zur Wand anfängt, endlich zu kämpfen - Hut ab. Der kühle Steinmeier, Gerhard Schröders ehemaliger Kanzleramts-Apparatschik, wie er in den Medien zuweilen genannt wird, hat auf diesem Parteitag zu sich selbst gefunden. Hat seinen eigenen Tonfall entdeckt. Hat nicht mehr in Schröder-Manier gebrüllt wie vor den Toren des Eisenacher "Opel"-Werks, hat aber auch nicht mehr die drögen Wortgebirge zusammengedrechselt, die zu einem Außenminister passen mögen, den Wähler aber schnell in die Flucht schlagen.

Für seine Verhältnisse hat Frank-Walter Steinmeier am Wochenende eine geradezu persönliche Rede gehalten. Er wolle Kanzler werden, hat er irgendwann gesagt. "Kanzler aller Deutschen. Kanzler "für die Menschen, die nicht verzagen - die etwas ändern wollen zum Besseren".

Vielleicht hat Steinmeier, der ja noch niemals zuvor einen Wahlkampf bestreiten musste, gestern zum ersten Mal auf sein Gefühl gehört. Als ihn der Beifall immer wieder auf die Bühne rief, als hinten die "Jetzt geht's loo-os!"-Gesänge anfingen, hat er zunächst überrascht gewirkt. Und dann regelrecht befreit. Und wenn dieser Parteitag, auf dem die SPD übrigens ihr seit Wochen fertiges Wahlprogramm verabschiedet hat, überhaupt eine mittelfristige Wirkung haben wird, dann möglicherweise am ehesten die, dass der Kanzlerkandidat Zuversicht zu sich selbst gefunden hat.

"Dieser Sonntag war ein guter Sonntag", hat Frank-Walter Steinmeier seinen Genossen am Nachmittag zugerufen, als er noch einmal ans Mikrofon trat, bevor man gemeinsam die alte SPD-Hymne "Wann wir schreiten Seit' an Seit'" sang. Bestimmt war es ein guter Sonntag für Frank-Walter Steinmeier.