187 Milliarden Euro gibt Deutschland im Jahr für Familienpolitik aus. Wichtiger wäre eine höhere Akzeptanz für Familien mit Kindern.

Hamburg. Die Zahl der Geburten in Deutschland ist auf ein Rekordtief von 663 000 gesunken, für Unionsfraktionschef Volker Kauder ein Anlass, das Elterngeld auf den Prüfstand zu bringen. "Wir werden uns dessen Wirkung noch einmal genauer ansehen müssen." 187 Milliarden Euro gibt der deutsche Staat jedes Jahr für Familien aus, mehr als die meisten anderen westlichen Industrienationen. Trotzdem geht es den Eltern und Kindern nicht besser als anderswo. Jedes sechste Kind gilt hierzulande als arm. Bewirkt Geld Nachwuchs? Wohl kaum. Kinder werden geboren, wenn das Klima stimmt, das gesellschaftliche Umfeld. Wenn man sein Leben behalten darf auch mit Kind und wenn Vertrauen da ist, dass schon alles gut gehen wird mit der Betreuung und Ausbildung. Bei uns allerdings fehlen 160 000 Betreuungsplätze, es fehlen familienfreundliche Arbeitszeiten, Frauen müssen Angst haben, nie mehr ein vernünftiges Einkommen zu erwirtschaften, nur weil sie Mutter geworden sind, Männer müssen mit Zeitverträgen leben, die ihnen eine ungesicherte Zukunft eröffnen. All das führt dazu, dass Menschen Angst davor haben, Kinder zu bekommen. Hinzu kommt ein gesellschaftliches Klima, das nicht kinderfreundlich ist.

In unserem Alltag, in dem es mehr Menschen gibt, die über 70 Jahre alt sind als unter 20-Jährige, gehören Kinder schon seit Langem nicht mehr zur Norm. Dünne Frauen, agile 40-Jährige, Jogger, Autofahrer, Hundebesitzer, Fußballfans, Sängerinnen, Computerfreaks - fast jeder kann zum Leitbild werden, doch keiner scheint in einer Welt mit Kindern zu leben. Kinder sind die Ausnahme, nicht das Normale. Kinder stören, machen Dreck und Lärm, wollen immerzu etwas, sind anstrengend, so wird suggeriert. Hat sich die Menschheit jahrtausendelang damit abgefunden, jederzeit Nachwuchs zu bekommen, so ist eine Schwangerschaft heute oft genug das Ergebnis jahrelanger Überlegungen. Passt es jetzt? Schaffe ich das? Haben wir genug Geld? Ein Kind zu haben - und die meisten Deutschen haben heute nur noch eins - scheint etwas Unnatürliches zu sein.

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Wo soll man anfangen, wenn es um das Thema Familie geht? Schließlich wird jeder Mensch in eine Familie hineingeboren, auch wenn sie in Deutschland immer öfter nur noch aus Mutter und Kind besteht (rund ein Viertel aller Kinder wächst bei Alleinerziehenden auf). Die Zahl der Lebensgemeinschaften sowie die der Alleinerzieher wuchs in den vergangenen zehn Jahren um 30 Prozent. Im selben Zeitraum ging die Zahl verheirateter Paare mit Kind um 16 Prozent auf 6,5 Millionen zurück. Die Zahl der kinderlosen Ehen ist in den letzten zehn Jahren um knapp 20 Prozent gestiegen.

Mitschuld, so hat das Institut für Weltbevölkerung herausgefunden, ist auch das unmoderne Paarverhalten in Deutschland, das oft genug, wenn Kinder da sind, keine egalitären Beziehungen zwischen Partnern kennt. "Heute ist die Fertilität der Frauen in den Ländern höher, in denen sie ein größeres Maß an Gleichberechtigung erreicht haben", sagt der Soziologe Franz-Xaver Kaufmann. Bei uns behält meist der Mann seine Arbeit, die Frau soll mit Kindern zu Hause bleiben und ihr ganzes Leben ändern. So etwas wird in Deutschland vom Finanzamt gefördert. 15 000 Euro bringt das Ehegattensplitting einem Paar jährlich. Auch wenn es keine Kinder hat.

Mit einem Durchschnittsalter von 44,9 Jahren zählt Deutschland zu den Ländern mit der ältesten Bevölkerung auf der Welt. Kinder und junge Menschen sind rar geworden im Alltagsbild, das von Grauhaarigen in Allwetterkleidung und praktischen Schuhen dominiert wird. Kinder werden als Störfaktor empfunden. Nachbarn klagen gegen Kindergärten, auf Freiflächen stehen "Spielen verboten"-Schilder. "Wenn man heute einen Tag im Büro fehlt", so eine Angestellte "erntet man mehr Verständnis, wenn man angibt, man habe sich beim Marathonlauf verausgabt, als wenn man sagt, das Kind sei krank." Verkehrte Welt.

Deutschland - und speziell das frühere Bundesgebiet - ist weltweit das einzige Land, in dem das niedrige Geburtenniveau um circa 1,4 Kinder je Frau bereits seit fast 40 Jahren zu beobachten ist. In Europa war die Bundesrepublik bereits Anfang der 1970er-Jahre das Land mit der niedrigsten Geburtenhäufigkeit. Seit in den 1960er-Jahren ein Individualisierungsschub durch die Gesellschaft ging, vollzieht sich die Herauslösung des Einzelnen aus traditionellen, kollektiven Lebenszusammenhängen und Sicherheiten. In der Folge haben sich Moralvorstellungen, Glaubenssysteme und stabile Zugehörigkeiten zu Familien und Nachbarschaft aufgelöst. Das Leben können sich viele Menschen inzwischen auch ohne Kinder vorstellen. Zwei Drittel aller Deutschen glauben, dass sich Karriere, Selbstverwirklichung und Wohlstand nur erringen lassen, wenn man auf Kinder verzichtet. Als ob nicht Selbstverwirklichung ganz ursächlich, nämlich genetisch, etwas mit Kindern zu tun hätte. Wer sich nicht fortpflanzt, der hat im Genpool der Zukunft eine Niete gezogen.

Die Fertilitätsraten sinken weltweit. Urbanisierung, höhere Einkommen, mehr Bildung und bessere Gesundheitsversorgung sorgen dafür, dass weltweit die Zahl der Wunschkinder sich bei zwei, maximal drei Kindern einspielt. Die Zahl der gewünschten Kinder, darin sind sich Demografen und Wirtschaftswissenschaftler einig, entspricht inzwischen fast immer der Zahl der Kinder, die tatsächlich geboren werden. Verzicht ist der Begriff, der heute im Bewusstsein vieler junger Deutscher ganz oben steht, wenn sie an Kinder denken. Nicht Freude, Sinnhaftigkeit oder der Gedanke an ein Weiterleben in zukünftigen Generationen. Sie denken an Geschrei und nächtelanges Durchweinen, an ödes Warten auf Kinderspielplätzen, an ausufernde Kosten, überfüllte Strände zur Ferienzeit oder daran, nie mehr spontan ausgehen zu können. Verzicht auf mehr oder weniger Luxus, auf Reisen, Hobbys, Ausschlafen und Abende mit Freunden fallen ihnen ein.

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So jedenfalls sehen es viele junge Männer. 60 Prozent der 25- bis 35-Jährigen sind kinderlos und jeder vierte Mann in Deutschland möchte dauerhaft kinderlos bleiben. Nur knapp die Hälfte aller Kinderlosen, 52 Prozent, wünscht sich überhaupt Kinder. Manche Soziologen glauben, dass der Kinderwunsch der Deutschen schwächer wird, weil man sich hierzulande schon so sehr daran gewöhnt habe in einer Umgebung mit wenigen Kindern zu leben.

Seit mehr als 20 Jahren pendelt die Geburtenrate in Deutschland zwischen 1,3 und 1,4 Kinder je Frau. Seit 1998 ist die Anzahl der potenziellen Mütter - Frauen zwischen 15 und 49 Jahren - rückläufig. In den nächsten 15 Jahren wird jeder Jahrgang Mädchen (Jungen zählen bei Geburtenstärken nicht) wieder kleiner sein als der vorherige. Heute bekommen 1000 Frauen im Schnitt nur noch 670 erwachsene Töchter, dann 450 Enkelinnen und nur 300 Urenkelinnen. Wohin das führt, kann sich jeder ausrechnen.

Stieg das Ansehen eines Mannes früher, wenn er Frau und Kinder hatte, "Familienvorstand" war, so heißt es heute "Kinder senken den Status". Wann hat es eigentlich aufgehört, dass die Vaterrolle für viele Männer attraktiv wurde? Warum wächst in Hamburg fast jedes vierte Kind bei einer alleinerziehenden Mutter auf? Männer wollen heute kernig, knackig und alles Mögliche sein. Aber Vater? Einer, der Orientierung gibt und Halt, der der wichtigste Mann im Leben seiner Tochter und ein Vorbild für seinen Sohn ist? Nur 26 Prozent der jüngeren Männer wollen Vater werden. Und auch jenseits der 40 raunen sie noch, "Süße, ich bin einfach noch nicht bereit für ein Kind!" Vielfach haben Männer auch Angst davor, im Falle einer Trennung keine Rechte mehr an einem gemeinsamen Kind zu haben, nur Zahlungspflichten.

Und das ist, bei der deutschen Rechtsprechung, nicht unbegründet. Viele Männer wollen sich gerne um ihre Kinder kümmern. Sagen sie. Doch tatsächlich beschäftigen sich Väter im Schnitt, das Wochenende eingerechnet, 20 Minuten am Tag mit ihren Kindern. Der Soziologe Ulrich Beck nennt das "verbale Aufgeschlossenheit bei weitgehender Verhaltensstarre".

Was Verzicht wirklich heißt, müssen in der Hauptsache die Frauen leisten. Immer noch sind sie es, die auf Kinder oder auf Karriere verzichten müssen. Beides passt so schlecht zusammen. Diese Vereinbarkeit ist der Knackpunkt aller familienpolitischen Ziele - sei es die höhere Geburtenrate, die Mehr-Kind-Familie, die Chancengleichheit, seien es mehr Mütter im Beruf. Man kann es in jedem Entwicklungsland beobachten: Sobald Frauen der Gleichberechtigung näher kommen, sich besser qualifizieren und selbst Geld verdienen, sinkt die Geburtenrate. Sie steigt erst wieder, wenn Beruf und Familie harmonieren. Dies muss im Mittelpunkt kluger Familienpolitik stehen. Heute arbeiten zehn Millionen Frauen mehr als vor 20 Jahren. Junge Frauen haben gelernt, dass ihnen alle Türen auf stehen. Doch sobald ein Kind da ist, will man ihnen weismachen, nur die Tür zum Kinderzimmer stehe dann noch offen. Ist es ein Wunder, dass sie dazu keine Lust haben?

Immer mehr Frauen sind in der Welt herumgekommen, auch das trägt zur Wut bei, dass Gehaltsunterschiede und Betreuungsprobleme nicht gottgegeben sind. 23 Prozent weniger als die Männer verdienen Frauen hierzulande, so jüngste Untersuchungen. Mit diesen Unterschieden zwischen den Geschlechtern stehen wir ganz hinten in Europa. Doch sie ergeben sich nur zu geringen Teilen daraus, dass gleiche Arbeit ungleich bezahlt wird. In der Hauptsache sind die Auszeiten, die Frauen der Kinder wegen nehmen, daran schuld. In keinem europäischen Land bleiben die Frauen nach der Geburt eines Kindes so lange zu Hause wie bei uns - drei Jahre und oft auch mehr. In Deutschland beeinträchtigt die Verantwortung für ein Kind die Erwerbsbeteiligung von Frauen gravierender als in vielen anderen Ländern, so ein Report der Bundesregierung.

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In Schweden oder Portugal sind zwischen 70 und 84 Prozent der Frauen mit zwei und mehr Kindern berufstätig. Bei uns sind es 56 Prozent - 20 Prozentpunkte weniger als bei den kinderlosen Frauen. Ist es da nicht an der Zeit, dass die inzwischen oft besser als die jungen Männer ausgebildeten jungen Frauen ihren Teil in der Arbeitswelt übernehmen und behalten? Und die jungen Männer Familienaufgaben wie Kochen und Einkaufen übernehmen und von einem altmodischen Rollenmodell Abschied nehmen, nach dem der Mann hinaus muss in die feindliche Welt und ihn Kind und Frau erst nach 20 Uhr interessieren? Frauen sollen basteln, bügeln, singen, erziehen, schlaflos sein, bis der Arzt kommt, und alles andere auch. Vielleicht müssen irgendwann auch mal die Männer umdenken. Unsere Paarbindungen sind komplizierter geworden, keine Frage. Aber ohne Sicherheit, ohne stabile Verhältnisse können Kinder nicht aufwachsen. Niemand wünscht sich den Patriarchen zurück. Aber ein verantwortungsvoller Mann sollte es schon sein. Der nicht beim ersten Problem davonrennt, sondern der auch Lösungen für Krisen kennt.

Wir leben in einer permissiven Gesellschaft, in der alle alles machen dürfen, was sie können. Erlaubt ist, was gefällt. Da gefällt es manch einem oder einer besser, Bier oder Rotwein trinkend in der Kneipe zu sitzen als an einem Bett, in dem ein fieberndes Kind liegt. Vielleicht sollten die, die in der Kneipe sitzen, mal darüber nachdenken, wie sie sich in 20 oder 30 Jahren fühlen werden. Immer noch in der Kneipe. Aber ohne Nachwuchs, ohne Perspektive. Dafür ist es dann zu spät.