Bundespräsident Christian Wulff kündigte am Morgen seinen Rücktritt an. Kanzlerin Merkel bedauerte den Schritt. Die Staatsanwaltschaft Hannover gab nun bekannt, ab Sonnabend strafrechtlich gegen Wulff zu ermitteln. Es geht um den Anfangsverdacht auf Vorteilsnahme und Vorteilsgewährung.

Berlin/Hamburg. Nach dem Rücktritt Christian Wulffs vom Amt des Bundespräsidenten will die Staatsanwaltschaft Hannover ab Sonnabend gegen den früheren Ministerpräsidenten von Niedersachsen ermitteln. Das gab ein Sprecher der Ermittlungsbehörde bekannt. Am heutigen Freitag sei das Staatsoberhaupt noch durch die Immunität geschützt. Man gehe aber davon aus, dass diese durch den Rücktritt am Sonnabend aufgehoben sei. Es geht um den Anfangsverdacht auf Vorteilsnahme und Vorteilsgewährung. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat den Rücktritt Wulffs mit „größtem Respekt und tiefem Bedauern“ aufgenommen. Das sagte sie am Freitag bei ihrer Erklärung in Berlin. Merkel kündigte an, einen Kandidaten für das Amt zu suchen, den alle Parteien mittragen. Bayerns Ministerpräsident und Präsident des Bundesrates Horst Seehofer (CSU) wird vorerst Wulffs Amtsgeschäfte übernehmen.

+++Die Rücktrittserklärung des Bundespräsidenten im Wortlaut+++

+++Live: Christian Wulff ist zurückgetreten+++

"Ich trete vom Amt des Bundespräsidenten zurück", gab Wulff im Schloss Bellevue nach 598 Tagen im Amt bekannt. Der 52-Jährige begründete dies damit, dass er seine Aufgaben wegen der Vorwürfe gegen ihn „nach innen und außen“ nicht mehr richtig wahrnehmen könne. Seine Wirkungsmöglichkeiten seien „nachhaltig beeinträchtigt“. Wulff zieht mit seinem Abgang die Konsequenzen aus dem Antrag der Staatsanwaltschaft Hannover, die am Donnerstag eine Aufhebung seiner Immunität beim Bundestag beantragt hatte, um ein Ermittlungsverfahren gegen ihn einleiten zu können.

Wulff betonte, er sei davon überzeugt, dass die anstehende rechtliche Klärung der Vorwürfe gegen ihn „zu einer vollständigen Entlastung führen wird“. Er habe sich in seinen Ämtern stets korrekt verhalten. Er sei immer aufrichtig gewesen. Die Medienberichterstattung in den vergangenenen zwei Monaten habe seine Frau und ihn verletzt, sagte Wulff, der von seiner Gattin begleitet wurde. Zudem betonte Wulff, er sei gern Bundespräsident gewesen. Deutschland brauche aber einen Präsidenten, der uneingeschränkt auf breiter Ebene das Vertrauen der Bevölkerung habe und sich den gewaltigen nationalen und internationalen Herausforderungen widmen könne. Wulff dankte besonders seiner Familie für die Unterstützung. "Vor allem danke ich meiner Frau, die ich als eine überzeugende Repräsentantin eines menschlichen und eines modernen Deutschland wahrgenommen habe", sagte der Bundespräsident a.D.

Merkel dankt Bettina und Christian Wulff

Bundeskanzlerin Angela Merkel bedauerte den Rücktritt und erklärte: „Wulff und seine Frau haben Deutschland im In- und Ausland würdig vertreten“. Sie sagte weiter, Wulff habe sich in seiner Amtszeit „voller Energie für ein modernes, offenes Deutschland eingesetzt“. Er habe neue Impulse gesetzt und deutlich gemacht, „dass die Stärke dieses Landes in seiner Vielfalt liegt“. Merkel betonte: „Ich danke ihnen beiden dafür.“ Wulff habe mit dem Schritt das Amt über seine persönlichen Auffassung gestellt, dass er sich nichts vorzuwerfen habe, sagte die Kanzlerin. Mit Blick auf den Antrag der Staatsanwaltschaft Hannover, Wulffs Immunität aufzuheben, sagte sie, es sei eine Stärke des Rechtsstaats, „dass er jeden gleich behandelt, welche Stellung auch immer er einnimmt“. Merkel kündigte an, dass Union und FDP umgehend auch das Gespräch mit der Opposition über einen Nachfolger suchen würden. „Wir wollen versuchen, der Bundesversammlung einen gemeinsamen Kandidaten für das Amt vorschlagen zu können“, sagte die CDU-Vorsitzende.

Nach Informationen aus Koalitionskreisen wollen die Parteichefs von CDU, CSU und FDP, Angela Merkel, Horst Seehofer und Philipp Rösler rasch über eine Nachfolge debattieren. Ein erstes Treffen der schwarz-gelben Spitze ist offenbar für Sonnabend in Berlin vorgesehen. Als aussichtsreiche Nachfolger für das Amt des Bundespräsidenten werden gehandelt: Verteidigungsminister Thomas de Maizière, Finanzminister Wolfgang Schäuble, Arbeitsministerin Ursula von der Leyen, Bundestagspräsident Norbert Lammert, Ex-Umweltminister Klaus Töpfer (alle CDU) und der 2010 gegen Wulff unterlegene frühere DDR-Bürgerrechtler Joachim Gauck. Auch der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, wird genannt. Die SPD erneuere ihr Angebot an Merkel, zusammen mit der Union einen überparteilichen Kandidaten für die Nachfolge zu suchen. „Eine andere Lösung wird das Amt, das jetzt schwer beschädigt ist, ... nicht wieder intakt bringen“, sagte Nahles. Das Amt brauche eine solche Geste.

Die Grünen dringen auf eine schnelle Beratung über die Nachfolge Wulffs. Seine Partei begrüße es, dass Bundeskanzlerin Merkel bereit zu überparteilichen Gesprächen sei, sagte Parteichef Cem Özdemir am Freitag in Berlin. Einen entsprechenden Vorschlag hätten die Grünen der Kanzlerin nach der Rücktrittserklärung Wulffs per Brief zukommen lassen. „Wir wollen, dass diese Gespräche so schnell wie möglich stattfinden“, sagte er. Ziel müsse jetzt sein, einen Bundespräsidenten zu finden, der breit getragen wird „von den im Bundestag vertretenen Parteien und Fraktionen, aber auch breit in der Gesellschaft Verankerung finden.“ Mit Namen sollte man sich jedoch zunächst noch zurückhalten. Wulffs Entscheidung zum Amtsverzicht hält der Grünen-Politiker indes für folgerichtig: „Der Rücktritt des Bundespräsidenten war der einzig noch mögliche Schritt“, sagte Özdemir.

+++Staatsanwaltschaft hat Aufhebung von Wulffs Immunität beantragt+++

+++Die Mitteilung der Staatsanwaltschaft im Wortlaut+++

Auch Grünen-Fraktionschefin Renate Künast hatte zuvor eine parteiübergreifende Nachfolge-Regelung für das Amt des Bundespräsidenten angemahnt. Die Politik müsse für eine würdevolle Neubesetzung sorgen, sagte Künast am Freitag in Berlin. „Alle sind aufgefordert, sich jetzt nicht an öffentlichen Spekulationen über die Nachfolge zu beteiligen.“ Dies gelte auch für SPD und Linke. Nach Horst Köhler und Wulff werde eine Person benötigt, die anerkannt und dem Amt gewachsen sei. Durch öffentliche Spekulationen finde man so einen Kandidaten nicht. „Wir sollten den Versuch unternehmen, einen gemeinsamen Kandidaten zu finden“, betonte Künast. „Wir sind dafür offen.“

Vorerst wird Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) dessen Amtsgeschäfte übernehmen. Das sieht das Grundgesetz vor: Der CSU-Chef ist derzeit Bundesratspräsident und muss demnach vorübergehend die Geschäfte des Bundespräsidenten weiterführen, bis ein neues Staatsoberhaupt gewählt ist. Das kündigte auch Christian Wulff bei seiner Rücktrittsrede an. Das Grundgesetz sieht in Artikel 57 für den Fall eines Rücktritts des Bundespräsidenten folgende Regelung vor: „Die Befugnisse des Bundespräsidenten werden im Falle seiner Verhinderung oder bei vorzeitiger Erledigung des Amtes durch den Präsidenten des Bundesrates wahrgenommen.“ Bis zu 30 Tagen könnte Seehofer die Amtsgeschäfte übernehmen. Innerhalb dieser Zeit muss die Bundesversammlung laut Artikel 54 des Grundgesetzes ein neues Staatsoberhaupt wählen.

"Das ist die Messlatte für den künftigen Bundespräsidenten“

Die Türkische Gemeinde in Deutschland hat den Rücktritt des Bundespräsidenten bedauert . „Wir haben dadurch inhaltlich einen guten Bundespräsidenten verloren“, sagte der Bundesvorsitzende des Dachverbandes, Kenan Kolat, am Freitag. Damit sei aber nichts über die Gründe gesagt, die zu diesem Schritt führten. Wulff habe in seiner knapp zweijährigen Amtszeit Maßstäbe für die Integrationspolitik gesetzt. „Er hat sie als zentrales Zukunftsthema für Deutschland definiert“, erklärte Kolat. Ferner habe er dazu beigetragen, dass Integration nicht mehr nur als Ausgleich von Defiziten verstanden werden. Zudem habe sich Wulff jüngst für den EU-Beitritt der Türkei ausgesprochen. „Das ist die Messlatte für den künftigen Bundespräsidenten“, betonte Kolat. Für einen Nachfolger „mit Migrationshintergrund sei die Zeit aber noch nicht reif: “Das ist zu früh.“

Thüringens Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht (CDU) hat die Rücktrittsentscheidung als folgerichtig bezeichnet. „Ich habe Achtung vor diesem persönlichen Schritt und bedauere zugleich, dass Christian Wulff diese Entscheidung treffen musste“, sagte Lieberknecht am Freitag in Erfurt. Sie warnte vor einer Vorverurteilung Wulffs und wünschte sich eine „Kultur zwischen Politik, Gesellschaft und Medien, die von gegenseitiger Wahrhaftigkeit geprägt ist, von Vertrauen und Verlässlichkeit“. Thüringens Vize-Ministerpräsident Christoph Matschie (SPD) warf Wulff vor, mit seinem langen Warten auch das Amt beschädigt zu haben. Er würde sich freuen, wenn der ehemalige DDR-Bürgerrechtler und Ex-Chef der Stasi-Unterlagenbehörde Joachim Gauck bereit wäre, anzutreten, sagte Matschie.

Auch der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) hat Respekt für den Rücktritt Wulffs geäußert. „Die Entscheidung des Bundespräsidenten ist nachvollziehbar und war aus seiner Sicht auch notwendig“, sagte Bouffier am Freitag in Wiesbaden. Wulff habe Deutschland im Ausland hervorragend vertreten, aber auch innenpolitisch mit seiner Rede zum Islam in Deutschland „sehr wichtige und zukunftsweisende Aspekte angesprochen“. Auch seine Worte anlässlich der Neonazi-Morde seien „angemessen, wohltuend und wichtig gewesen“, würdigte Bouffier. Er unterstützte ausdrücklich Bundeskanzlerin Angela Merkel darin, „dass wir uns nun bemühen müssen, eine Persönlichkeit zu nominieren, die Vertrauen genießt“. Zugleich äußerte sich Bouffier „zuversichtlich, dass es in überschaubarerer Zeit“ Vorschläge für einen Nachfolger geben werde.

Hat Wulff gegen das Wertpapierhandelsgesetz verstoßen?

Die geplanten Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Hannover beziehen sich auf das gesamte „dienstlich-private Verhältnis“ zwischen Wulff und dem Filmfondsmanager David Groenewold. Bisher hat die Staatsanwaltschaft nicht die Möglichkeit, dazu selber Zeugen zu befragen, Dokumente sicherzustellen oder Akten einzusehen. Die Justiz in Hannover stützt ihren Anfangsverdacht, Wulff habe eventuell Vorteile von Groenewold angenommen, bisher allein auf die Darstellung der Vorgänge in den Medien.

Groenewold hatte mit Wulff und seiner Frau Bettina Urlaub auf Sylt gemacht und die Hotelkosten zunächst bezahlt. Wulff will den Betrag später in bar beglichen haben. Ferner soll Groenewold Wulff in seiner Zeit als Ministerpräsident entgeltlich ein Handy überlassen haben und darüber hinaus zunächst auch ein Hotelupgrade beim Münchner Filmball bezahlt haben. Ins Blickfeld der Staatsanwaltschaft rückte die Verbindung, weil die niedersächsische Landesregierung einer Firma Groenewolds knapp ein Jahr zuvor eine Bürgschaft von vier Millionen Euro gewährte, die aber nie in Anspruch genommen wurde. Oberstaatsanwalt Lendeckel sagte, bisher gebe es noch kein Ermittlungsverfahren gegen Groenewold. Auch gegen ihn könne erst ermittelt werden, wenn Wulffs Immunität aufgehoben sei. Weitere Angaben zum Gang des Verfahrens wollte Lendeckel nicht machen. „Wir möchten jeglichen Anschein vermeiden, mit Interpretationen unserer Mitteilung den Bundestag zu beeinflussen.“

Eventuelle Konsequenzen drohen Christian Wulff nach Informationen des "Spiegel" auch wegen seiner Rolle als damaliger VW-Aufsichtsrat. Die Finanzaufsicht BaFin prüfe, ob Wulff als damaliger niedersächsischer Ministerpräsident im Übernahmekampf zwischen VW und Porsche gegen das Wertpapierhandelsgesetz verstoßen hat. Möglicherweise hätte Wulff als VW-Aufsichtsrat eine Ad-hoc-Meldung herausgeben müssen, berichtet das Nachrichtenmagazin. Grund dafür sei ein interner Vermerk der Staatskanzlei vom 12. Februar 2008, in dem Wulff mitgeteilt worden war, dass Porsches mittelfristiges Ziel „der Abschluss eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrages“ sei.

Mit Material von dpa/dapd/rtr