Der frühere Finanzminister kann die Herzen der Sozialdemokraten nicht erwärmen. Die Frage der Kanzlerkandidatur ist offener denn je.

Berlin. Die Statistik sei an den Anfang gestellt: Steinbrück spricht deutlich kürzer, als es Parteichef Sigmar Gabriel am Vortag getan hat, aber auch kürzer als Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier in seiner Rede am Sonntag. Der Applaus am Ende fällt für Steinbrück karger aus als der für Steinmeier und um Welten verhaltener und kürzer als der für den Parteichef. Wer am Ende des drei Tage währenden SPD-Treffens in Berlin einen Favoriten für die Kanzlerkandidatur ausmachen will, muss weiter im Nebel stochern. Wer gedacht hat, Steinbrück sei längst der gefühlte Kandidat, muss feststellen: Die SPD weiß wirklich noch nicht, wen sie gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ins Rennen schicken will.

Steinbrück hat es anfangs nicht leicht an diesem Dienstagmorgen. Der fröhliche Parteiabend steckt vielen Delegierten noch in den Knochen, Müdigkeit macht sich breit nach drei anstrengenden, langen Tagen mit vielen hart geführten Debatten und Entscheidungen. Der frühere Finanzminister spürt offenbar die Lethargie seiner Zuhörer.

In seiner Rede umschmeichelt er erst zögerlich, später leidenschaftlicher die Genossen. "Die SPD ist die Partei, die das Bündnis zwischen den Starken und den Schwachen organisieren muss", sagt er und bekennt sich gleich mehrfach zum gesetzlichen Mindestlohn. "Wer sein Geschäftsmodell auf Niedriglöhnen aufbaut, hat kein Geschäftsmodell." Für Sätze wie diesen erhält er den größten Beifall, andere Aussagen werden deutlich verhaltener aufgenommen: etwa Steinbrücks Aufruf, mit mehr Selbstbewusstsein darüber zu reden, was die SPD in den vergangenen Jahren in Regierungsverantwortung erreicht habe. "Wo stünde die Bundesrepublik ohne die teilweise bitteren Reformen in der Regierungszeit von Gerhard Schröder?", fragt er. Das ist dann manchen doch zu viel Lobhudelei für die bis heute in der SPD hoch umstrittene Agenda 2010 mit ihrem Kurswechsel in der Arbeitsmarktpolitik.

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Doch Steinbrück versucht, die Anwesenden für sich zu gewinnen. Er umgarnt Sigmar Gabriel mit seiner Gratulation zur Wiederwahl als Parteivorsitzender, er lobt Frank-Walter Steinmeier für dessen Europarede. Und er wärmt das Genossenherz, indem er auf die Bundesregierung und ihren "fiskalpolitischen Schwachsinn" eindrischt. Steinbrück steht eigentlich auf dem Podium, um den finanz- und wirtschaftspolitischen Leitantrag vorzustellen. Zu dessen Botschaften gehören auch Steuererhöhungen.

Steinbrück will die Vorschläge mittragen, aber keinen Schritt weiter gehen. An die Parteilinke gerichtet, die zu diesem Zeitpunkt noch die Einführung einer Reichensteuer fordert, sagt er: Es wäre ein Fehler, "den politischen Kontrahenten die Munition in die Hand zu geben, das Steuerkonzept der SPD zu diskreditieren". Man dürfe die Starken "nicht verprellen", aber die Leistungsträger für ein solidarisches gesellschaftliches Bündnis gewinnen.

Ein Steinbrück-Auftritt bei einem Parteitag war noch nie ein Heimspiel. Um die Herzen der Partei zu gewinnen, muss der kühle Rechner der Großen Koalition seine Zuhörer ganz anders umgarnen als Parteichef Gabriel. Zu sehr gehen den Sozialdemokraten die Eigenwilligkeit und der mitunter schroffe Umgang Steinbrücks mit Parteifreunden auf die Nerven. Und dass Steinbrücks Herz politisch ähnlich links schlägt wie das Herz Gabriels, nimmt man dem 64-Jährigen nicht ohne Weiteres ab. Oberlehrerhaft finden ihn manche Delegierte. Andere haben das Gefühl, dass der frühere Finanzminister es schon zu weit getrieben hat mit seinen Ambitionen, der nächste Kanzlerkandidat zu werden. Zu kräftig scheint Steinbrück gemeinsam mit Altkanzler Helmut Schmidt die Werbetrommel für sich gerührt zu haben. Und das lässt ein großer Teil der rund 500 Delegierten ihren Finanzfachmann deutlich spüren.

"Wir werden über Steine gehen müssen. Aber wir sind Sozialdemokraten. Und das Entscheidende ist: Wir gehen zusammen", sagt Steinbrück zum Ende seiner 40-minütigen Rede. Aber davon mitgerissen fühlt sich kaum einer der Delegierten. Immerhin, seine möglichen Konkurrenten Gabriel und Steinmeier flankieren ihn und spenden ihm demonstrativ langen Beifall. In der Aussprache gelingt es der Parteiführung, die befürchtete Niederlage bei einer Abstimmung über die Reichensteuer abzuwenden: Die Delegierten beschließen, den Spitzensteuersatz von 42 auf 49 Prozent (ab einem Einkommen von 100 000 Euro, für Ehepaare ab 200 000 Euro) anheben zu wollen, sobald sie in Regierungsverantwortung sind. Und mit einem Kompromiss bei der Abgeltungssteuer nimmt die Linke Abstand von ihrer Forderung einer 52-prozentigen Reichensteuer. Dafür soll die Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge von 25 auf 32 Prozent steigen.

Ein "tolles Signal", findet Gabriel diese Lösung und bedankt sich per Handschlag bei Ralf Stegner. Der schleswig-holsteinische Landeschef, einer der Wortführer des linken Flügels, hatte eindringlich für diese Lösung geworben. Für alle sichtbar hatte er sich nach Steinbrücks Rede nicht zum Applaus von der Präsidiumsbank erhoben. Nun versucht auch der stets kritisch dreinblickende Stegner, ein halbwegs zufriedenes Gesicht zu machen.

Auch Steinmeier hat es noch einmal aufs Podium gezogen. "Wir haben das bessere Programm. Wir können uns nur noch selbst ein Bein stellen", sagt er in der Steuerdebatte und lobt den Parteitag als den besten, "den ich je erlebt habe". Nun haben sie also alle noch einmal gesprochen, die drei Protagonisten, die seit einigen Monaten als Troika bezeichnet werden. Einen Primus inter Pares hat der Parteitag nicht geboren. Vor allem Gabriel und Steinmeier dürften darüber sehr beruhigt sein.