Die Kür der Kanzlerkandidaten dürfte in der SPD neue Flügelkämpfe auslösen.

Demut und Dankbarkeit sind seltene Währungen im politischen Betrieb. Helmut Schmidt ist eine Persönlichkeit, die beides in unnachahmlicher Weise auf sich vereint. Sein historischer Appell beim SPD-Parteitag für ein solidarisches Europa und für eine Sozialdemokratie, die sich dieser Solidarität verpflichtet, scheint der Partei mehr Selbstbewusstsein eingeflößt zu haben als alle oppositionellen Bundestagsreden gegen Schwarz-Gelb seit 2009. Natürlich nicht nur, aber auch weil sie einen Helmut Schmidt hat, fühlt sich die SPD im Jahr zwei nach der verheerenden Pleite bei der Bundestagswahl wieder wohl in ihrer Haut. In der Europapolitik fordert sie die Deutungshoheit wieder für sich ein - und sie tut dies tatsächlich in aller Geschlossenheit. So friedlich war die SPD selten.

Ihre Selbstbeschäftigung beschränkt sich vor allem auf die Frage, wer 2013 Bundeskanzlerin Angela Merkel herausfordern soll. Mit Parteichef Sigmar Gabriel, Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier und Ex-Finanzminister Peer Steinbrück verfügt sie über drei potenzielle Kandidaten, die alle auf ihre Art das neue sozialdemokratische Selbstbewusstsein repräsentieren. Noch tut die SPD so, als ob sie sich über ihr Überangebot an Anwärtern freue.

Spätestens in einem Jahr wird die Euphorie den Macht- und Flügelkämpfen weichen. Die härteste Probe hat die Partei also noch vor sich: Hält sie auch noch zusammen, wenn sie den als unstet, unberechenbar und mitunter unseriös geltenden Parteichef Gabriel ins Rennen schickt? Hält sie auch zusammen, wenn sie mit Steinmeier einem zwar hoch geachteten, aber wenig Begeisterung auslösenden Wahlverlierer von 2009 eine zweite Chance gibt? Und wie reagiert sie erst, wenn sie tatsächlich ihren scharfzüngigen Finanzexperten Steinbrück, der derzeit eher als Buchautor von sich reden macht, ans Ruder lässt?

Wie sehr der linke Parteiflügel Steinbrücks Aufstieg bereits heute verhindern will, lässt sich schon jetzt an ihren gezielten Angriffen beim Parteitag auf die sozialdemokratische Steuer- und Rentenprogrammatik ablesen. Die Parteilinke fordert die Reichensteuer, die Steinbrück für reichenfeindliche Symbolpolitik hält. Der Arbeitnehmerflügel will das Rentenniveau festschreiben. Dessen beschlossene Absenkung ist steinbrücksche Politik pur aus Zeiten der Großen Koalition. Man kann sich schwer vorstellen, dass der in Hamburg geborene 64-Jährige für eine SPD um die Kanzlerschaft wirbt, die mit dem moderaten Steuer- und Rentenkurs aus rot-grünen und schwarz-roten Zeiten nichts mehr zu tun haben will.

Insofern könnte dieser Parteitag heute und morgen erste Hinweise geben, mit welcher Persönlichkeit die sich weiter erneuernde SPD am besten zusammenpasst. Das Treffen in Berlin wird aber auch - zumindest in programmatischen Bruchstücken - die Frage beantworten, ob die SPD sich als Reform- oder als Retropartei versteht.

Klarer ist ein anderes Signal: Wenn heute neben Manuela Schwesig aus Mecklenburg-Vorpommern und Olaf Scholz aus Hamburg mit Aydan Özoguz eine weitere Hamburger Persönlichkeit zur stellvertretenden Parteivorsitzenden gewählt wird, dann wird die SPD nicht nur norddeutscher. Die Beförderung der Integrationsbeauftragten der Bundestagsfraktion ist nicht weniger als der klare Schlussstrich unter die für die SPD wenig ruhmreiche Causa Thilo Sarrazin. Der Autor der umstrittenen Integrationsthesen darf bekanntlich Parteimitglied bleiben. Mit Özoguz zeigt die SPD, dass sie beim Thema Integration und Migration mehr zu bieten hat als einen Querulanten. Ihrem Selbstverständnis als politische Heimat für Einwanderer wird die Sozialdemokratie nun sichtbarer gerecht. Diese Botschaft ist vielleicht die wichtigste, die vom Parteitag hängen bleiben wird.