Die Energiepolitik in Deutschland steht auf dem Prüfstand. Kanzlerin Merkel rechtfertigt ihre Wende in der Atompolitik mit gewagten Argumenten.

Berlin. So manch ein Atomkraftgegner im Bundestag rieb sich verdutzt die Augen: War das da vorne wirklich Angela Merkel? Oder war die Kanzlerin etwa kurzfristig in die eigenen Reihen übergelaufen? In einer hitzig geführten Bundestagsdebatte verteidigte gestern die CDU-Chefin ihre Entscheidung, die ältesten deutschen Kernkraftwerke abzuschalten - und drehte die politischen Fronten für ein paar Minuten kurzerhand um. Die von der Regierung beschlossene vorläufige Abschaltung der ältesten Atommeiler sei mehr, als SPD und Grüne je erreicht hätten, erklärte die Kanzlerin in einer Regierungserklärung im Parlament.

Ihr Argument: Mit dem einstigen rot-grünen Konzept des schrittweisen Atomausstiegs wäre jetzt nur das alte AKW Neckarwestheim 1 in Baden-Württemberg vom Netz. "Alle anderen würden weiterlaufen." Sie aber lasse insgesamt acht Meiler stillstehen, lobte sich Merkel - und ließ beiseite, dass Union und FDP zuvor die Laufzeiten um im Schnitt zwölf Jahre verlängert hatten.

Von der Kritik der letzten Tage an ihrem Kurs in der Energiepolitik schien sich Merkel nicht länger beeindrucken lassen zu wollen. Stattdessen ging sie zum Gegenangriff über: Die Grünen würden den Ausbau der erneuerbaren Energien wegen problematischer Begleiterscheinungen wie den Bau von Stromtrassen bremsen. "Wir packen, was Rot-Grün in unverantwortlicher Weise hat liegen lassen, entschlossen an", stichelte Merkel - und erntete ein empörtes "Jetzt reicht's aber" von Grünen-Chefin Claudia Roth.

Doch die Verwandlung der Angela Merkel währte nur kurz: Die Kanzlerin wies das Angebot der SPD zurück, in einem verkürzten parlamentarischen Verfahren ein Abschaltgesetz zu beschließen. "Was wir brauchen, ist ein Ausstieg mit Augenmaß", sagte Merkel. Deutschland müsse auch dem Klimaschutz gerecht werden. Zudem müsse Energie bezahlbar bleiben.

Der wohl schärfste Konter traf die Kanzlerin erst gut zwei Stunden später. Als siebter Redner nach Merkels Regierungserklärung drohte SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier: "Das werden die Menschen nicht vergessen." Die Bürger in Deutschland, so Steinmeier, würden sich genau daran erinnern, wer wann gegen die Atomkraft war, und erst recht daran, dass die schwarz-gelbe Regierung den Ausstieg aus dem rot-grünen Atomausstieg nur wenige Monate zuvor beschlossen hatte. Auch die Grünen griffen die Bundesregierung an. Deren Pläne zum Atomausstieg bis zum Jahr 2050 sei kein "Ausstieg mit Augenmaß, sondern die Bestandsgarantie für eine gescheiterte Technologie", sagte Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin.

Nicht nur die Opposition tut sich schwer, Merkel den atomkritischeren Kurs zu glauben. Die große Mehrheit der Deutschen (68 Prozent) hält die von der Kanzlerin verkündete Aussetzung der Laufzeitverlängerung für ein klares Wahlkampfmanöver. Das ergab der neuste Deutschlandtrend im ARD-Morgenmagazin. Nur jeder vierte Bürger hält das dreimonatige Atom-Moratorium für einen glaubwürdigen Kurswechsel der Union. E.on-Chef Johannes Teyssen zufolge gibt es keinen Sicherheitsgewinn dadurch, dass die sieben ältesten Atomkraftwerke vorübergehend vom Netz gingen. Dabei handele es sich eher um eine politische Aktivität angesichts der Ängste der Bürger. Laut "Süddeutscher Zeitung" erwägt E.on eine Klage gegen das Moratorium.

"Bisher hat die Bundesregierung völlig falsche Signale in Europa gesetzt, denn es war ja diese Regierung, die den Ausstieg rückgängig gemacht hat", sagte der SPD-Europaabgeordnete Martin Schulz dem Hamburger Abendblatt. Schulz sprach sich für eine Änderung des Euratom-Vertrags aus, um die Auflagen für Reaktorsicherheit auf EU-Ebene zu verschärfen. "Statt der Förderungen der Atomenergie sollte das Ziel des Vertrages der Ausstieg aus der Atomenergie werden", sagte Schulz.

"Die Bundesregierung muss ihr Energiekonzept nach der Katastrophe in Japan überdenken", sagte der Unternehmer und Vorsitzende des BDI-Mittelstandsausschusses, Arndt G. Kirchhoff, dem Abendblatt. Es dürfe jetzt nicht mehr 20 Jahre dauern, bis Deutschland den Ausstieg aus der Kernkraft geschafft habe.

Bundesverbraucherministerin Ilse Aigner (CSU) gab unterdessen vorläufige Entwarnung für Lebensmittel aus Japan. "Unsere Erkenntnisse sind, dass momentan keine Lebensmittel kontaminiert sind", sagte Aigner in Brüssel. Deutschland habe seine Kontrollen bereits verschärft.