Merkel hat sich gegen den sofortigen Ausstieg aus der Atomkraft ausgesprochen. Atomkonzerne prüfen Klagen wegen AKW-Abschaltungen.

Berlin. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat am Donnerstag in einer Regierungserklärung nochmals die vorübergehende Stilllegung von alten Atomanlagen als rechtkonform verteidigt. „Es gilt der Grundsatz: Im Zweifel für die Sicherheit.“ Die Abschaltung sei durch das Atomgesetz gedeckt. Ein neues Gesetz sei dafür nicht notwendig. Zugleich sprach sie sich gegen einen sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie aus. „Wir brauchen einen Ausstieg mit Augenmaß“, sagte Merkel. Deutschland sei als Industrienation auf eine sichere Energieversorgung angewiesen. Es bringe nichts, alle deutschen Kernkraftwerke abzuschalten und dann Atomstrom aus dem Ausland zu importieren.

Die Kanzlerin bekräftigte, sie wolle auch auf europäischer und internationaler Ebene die Debatte über höhere Sicherheitsstandards forcieren. Auf dem EU-Gipfel Ende nächste Woche sei die nukleare Sicherheit als zusätzlicher Tagesordnungspunkt aufgenommen worden. EU-weite Stresstests seien zu begrüßen. „Wir brauchen in der gesamten Europäischen Union hohe Sicherheitsstandards“, sagte Merkel. Es sei nicht nur das Land betroffen, in dem ein Atomkraftwerk stehe. Zudem habe Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy als G20-Vorsitzender die Energieminister der wichtigsten Wirtschaftsnationen (G20) zu einem Sondertreffen nach Paris geladen.

Angela Merkel betonte unter lautstarkem Protest der Opposition, die Regierung habe mit dem neuen Atomgesetz die Sicherheitsanforderungen für die Atomkraftwerke erhöht. Sie wies Kritik zurück, Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) setze das von seinem SPD-Vorgänger Sigmar Gabriel erarbeitete neue kerntechnische Regelwerk mit schärferen Standards nicht um. Die Angriffe von SPD, Grünen und Linken seien respektlos. Diese werfen Röttgen vor, bei dem anstehenden Sicherheits-Check ein kerntechnisches Regelwerk aus den 80er Jahren anzuwenden.

Starke Kritik aus der Opposition

SPD-Chef Sigmar Gabriel war Angela Merkel vor, die seit Langem notwendige Abschaltung der ältesten Atomkraftwerke bislang hartnäckig verweigert zu haben. Er habe die Kanzlerin bereits in der Vergangenheit aufgefordert, die ältesten Atomkraftwerke schneller vom Netz zu nehmen. „Sie haben das verweigert“, sagte Gabriel am Donnerstag im Bundestag. Gabriel, der in der großen Koalition unter Merkel Bundesumweltminister war, warf der Kanzlerin vor, sie selbst habe seinerzeit verlangt, die Laufzeiten der Atommeiler Biblis A und Neckarwestheim I zu verlängern. „Sie haben mich schriftlich dazu aufgefordert, die Laufzeiten dieser beiden Atomkraftwerke zu verlängern.“ Gabriel sagte:„Die äußerste Gefahrenvorsorge, die müssen Sie nicht jetzt machen, die müssen Sie immer machen.“ Im Herbst dann habe Merkel mit den Atomkonzernen die Laufzeitverlängerung ausgehandelt. „Sie hatten ja alles mit den Herren der Atomwirtschaft im Hinterzimmer dingfest gemacht“, sagte er. „Sie persönlich haben Sicherheit gegen Geld getauscht.“

Nun sei völlig unsicher, wie Merkel nach Ende des dreimonatigen Atom-Moratoriums entscheide. Die Kanzlerin sei unzuverlässig und schade der Glaubwürdigkeit der Politik insgesamt. Die SPD fordert ein Ausstiegsgesetz mit der dauerhaften Abschaltung der sieben ältesten AKWs und einem Verfall der Reststrommengen.

Merkel hatte die Opposition zuvor wegen ihrer Kritik an der Atompolitik der Regierung scharf kritisiert. „Ich finde, dass Ihre Art und Weise absolut respektlos ist“, sagte Merkel in ihrer Regierungserklärung. „Ihr Verhalten ist an Niveaulosigkeit nicht zu unterbieten.“

Merkel wiederholte auch nochmals ihre Soldiraitätsbekundungen mit Japan und hat Hilfe bei der Bewältigung der Erdbeben-Katastrophe zugesichert und die Deutschen zu Spenden aufgerufen. „Was immer wir tun können, das werden wir weiter tun“, sagte Merkel. Das habe sie auch dem japanischen Ministerpräsidenten Naoto Kan versichert. Die Deutschen rief Merkel zu Spenden auf. „Dabei zählt die Hilfe jedes Einzelnen.“ Die wirtschaftlichen Folge der Katastrophe seien noch nicht absehbar. „Ich befürchte derzeit nicht, dass die Weltwirtschaft signifikant beeinträchtigt wird“, sagte Merkel. Mögliche Folgen würden gemeinsam mit den internationalen Partnern bekämpft werden.

Atomkonzerne prüfen Klagen

Nach dem Beschluss der Bundesregierung, die sieben ältesten Meiler zumindest vorübergehend vom Netz zu nehmen, prüfen Atomkraftwerksbetreiber nach Informationen der „Süddeutschen Zeitung“ rechtliche Schritte. Eon erwäge eine Klage gegen die entsprechende Verfügung des Umweltministeriums, berichtet das Blatt (Donnerstag). Unter Berufung auf Branchenkreise hieß es, auch andere Konzerne zögen rechtliche Schritte in Betracht.

Die Koalition hatte am Dienstag beschlossen, die sieben ältesten Reaktoren für eine gründliche Überprüfung drei Monate lang abzuschalten. Das Moratorium soll klären, ob die Vorkehrungen in Deutschland ausreichen, um eine Katastrophe wie in Japan zu verhindern. Blieben die sieben Kernkraftwerke dauerhaft vom Netz, könnte das Schadenersatzforderungen in Milliardenhöhe nach sich ziehen, hieß es bei den Unternehmen.

Bund und Länder hatten sich darauf verständigt, den vorübergehenden Stillstand mit einem Paragrafen anzuordnen, der eigentlich der Gefahrenabwehr dienen soll. Diese Grundlage sei äußerst wacklig, heißt es dem Zeitungsbericht zufolge beim größten deutschen Energieversorgers Eon. Die Prüfung rechtlicher Schritte sei das Management seinen Aktionären angesichts eines Eingriffs in das Eigentum des Konzerns schuldig.

„Das wird unsere Juristen beschäftigten“, zitierte das Blatt eine ungenannte Quelle in der Spitze eines zweiten Energieversorgers. Auch der RWE-Konzern hatte am Mittwoch angekündigt, den Inhalt der Weisung zum Herunterfahren seines Kraftwerks Biblis A rechtlich prüfen zu lassen.

Ursprünglich hatte Eon angekündigt, sein Kraftwerk Isar 1 freiwillig vom Netz zu nehmen. Dies habe der Konzern gestoppt, nachdem die Bundesregierung angekündigt hatte, alle sieben Altkraftwerke vom Netz zu nehmen, berichtete die „Süddeutsche Zeitung“. Das Kraftwerk laufe nun in reduziertem Betrieb weiter, bis eine behördliche Verfügung vorliege, wurde ein Sprecher zitiert. (dapd/dpa/Reuters)

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Es hätte eigentlich ein schöner Ausflug werden können. Umgeben von Waldgebieten ist die Kleinstadt Waldshut-Tiengen im Südwesten Baden-Württembergs. Direkt am Rhein gelegen, die Schweiz auf der anderen Uferseite. Idyllisch geradezu. Und auch das Programm von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) für den gestrigen Abend ist nicht allzu anspruchsvoll gehalten: Sie soll ordentlich Wahlkampf machen, die Parteifreunde im Ländle motivieren und sich dann ins Goldene Buch von Waldshut-Tiengen eintragen. Fertig, auf zum nächsten Termin.

Doch seit die Atomdebatte tobt, ist im Wahlkampfland Deutschland alles nicht mehr so leicht. "Wir können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen", hat Merkel dieser Tage wiederholt betont. Für Baden-Württemberg gilt das allemal. Es ist Stammgebiet der CDU und die Fortsetzung der nunmehr fast 58 Jahre andauernden Regentschaft der Christdemokraten scheint akut gefährdet. Das erneute Aufflammen der Anti-Atom-Proteste verschlimmert die Situation - denn traditionell profitieren die Oppositionsparteien und vor allem die Grünen von einer solchen Stimmung in der Bundesrepublik. Das war schon im Herbst so, als die Menschen wegen des umstrittenen Endlagers Gorleben auf die Straße gingen. Und auch im aktuellen Forsa-Wahltrend hat die Öko-Partei in einer Woche zwei Prozentpunkte zugelegt und kommt jetzt auf 18 Prozent. Auf Bundesebene liegen SPD und Grüne mit 44 Prozent wieder vor Union und FDP mit 41 Prozent (siehe Grafik). Für die Kanzlerin ist das nur zwei Wochen vor der wichtigen Landtagswahl in Baden-Württemberg hochgefährlich. Die "Kernfrage" bedroht ihr Kernland. Und damit vielleicht auch die Fortdauer der schwarz-gelben Bundesregierung.

Merkel scheint das zu ahnen. Denn der schnell herbeigeführte und tief greifende Schwenk ihrer Atompolitik lässt sich anders kaum erklären. Zwar sind die Katastrophe in Japan und die Reaktoren in Fukushima rund 9000 Kilometer von Berlin entfernt - jedoch reicht das nicht, um die Kanzlerin vor politischem Schaden zu schützen. Sie steckt in einem Dilemma: Einerseits muss sie auf die Stimmung der Menschen und Wähler reagieren. Und die machen sich derzeit mehrheitlich Sorgen über die Gefahren von Atomenergie. Andererseits ist da aber nun mal ein großes Energiekonzept, das die Bundesregierung im vergangenen Herbst beschlossen hat und das bekanntlich den Ausstieg vom einst unter Rot-Grün vereinbarten Ausstieg aus der Atom-Energie bedeutet. Ein radikales Abweichen wird sofort als ein Akt von Opportunismus und Aktionismus kritisiert. In einer solchen Zwickmühle versucht Merkel jetzt zu managen, wo es zu managen geht - und inszeniert sich nach langer Zeit mal wieder als Krisenkanzlerin, die anpackt, wenn es denn sein muss. In der letzten großen Konfliktsituation, der Plagiatsaffäre von Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, hatten manche genau das vermisst.

Die Frage ist nur, ob Merkel es schafft, auch die Balance zu halten. Denn kaum hatte sie ihre Entscheidung bekannt gegeben, dass nun alle 17 deutschen Atommeiler einer dreimonatigen Sicherheitsprüfung unterzogen werden und die sieben ältesten Kraftwerke vorübergehend vom Netz gehen, witterte die Opposition pure Wahlkampftaktik. SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier schimpfte: "Schwarz-Gelb steht vor dem kompletten Scheitern seiner Energiepolitik."

Vor allem aber geht es um die Glaubwürdigkeit der Bundeskanzlerin. Die hatte bereits in der Causa Guttenberg gelitten, als Merkel trotz großer Proteste Zehntausender Wissenschaftler an dem einstigen Unions-Hoffnungsträger festhielt. Auch das hatte sich sofort in sinkenden Umfragewerten manifestiert.

Erster richtiger Stimmungstest wird jedoch die Wahl in Sachsen-Anhalt am kommenden Sonntag sein. Auch hier ist keinesfalls ausgemacht, wer künftig das Ruder übernimmt. Zwar ist die CDU nach jüngsten Umfragen weiterhin stärkste Kraft, doch krebst die FDP nach wie vor in der Nähe der Fünfprozenthürde herum. Für Rot-Grün dürfte es ebenfalls nicht reichen, wohl aber für Rot-Rot. In Rheinland-Pfalz wiederum, wo zeitgleich mit Baden-Württemberg am 27. März gewählt wird, ist für die CDU nur schwer etwas zu holen. Der dortige SPD-Landesvater Kurt Beck ist der am längsten amtierende Ministerpräsident der Bundesrepublik und gedenkt, es auch dabei zu belassen. Mit einem rot-grünen Bündnis dürfte das nach derzeitiger Umfragenlage kein Problem werden. Dazu kommt das wackelige Baden-Württemberg. Dass Stefan Mappus seinen Stuhl in der Stuttgarter Staatskanzlei behalten darf, ist keinesfalls gesichert.

Und dann hat Angela Merkel noch ein ganz anderes Problem. Es heißt Norbert Röttgen, seines Zeichens Bundesumweltminister - zumindest noch. Denn seit das Bundesverfassungsgericht den Haushalt der rot-grünen Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen gekippt hat, werden dort Neuwahlen immer wahrscheinlicher. Röttgen hat sich hier als Spitzenkandidat aufstellen lassen. Kommt es hart auf hart, wird er sich bald in die Landespolitik verabschieden. Die Kanzlerin wird dann schnell einen neuen Umweltminister aus dem Hut zaubern müssen - oder das gesamte Kabinett umbilden.

Beides ist nicht ganz einfach, denn fähiges Personal ist Mangelware. Schon der neue CSU-Innenminister Hans-Peter Friedrich schien manchen als Notlösung. Zudem bringt eine Umstrukturierung der Regierungsmannschaft etwas mit sich, was Angela Merkel überhaupt nicht gern hat: Instabilität. Vielmehr mag sie es, wenn die Dinge ihre Ordnung haben. Doch es sieht vieles danach aus, dass sie darauf mindestens für einige Wochen verzichten muss.

Die Welt erbebt - Hier geht es zum großen Abendblatt-Dossier zur Naturkatastrophe in Japan