Wie passen Kiez und Kirche zusammen? Ein Gespräch mit Sieghard Wilm, dem Pastor der ungewöhnlichsten Gemeinde der Stadt.

Wer an St. Pauli denkt, denkt an vieles - aber sicher nicht an die St.-Pauli-Kirche. Dabei hat sie dem Stadtteil 1833 seinen Namen gegeben. Ein Gespräch mit Sieghard Wilm, dem etwas anderen Pastor aus dem etwas anderen Stadtteil.

Hamburger Abendblatt:

Sie sind Pastor an der "sündigen Meile" - Kirche und Kiez, wie passt das zusammen?

Sieghard Wilm:

St. Pauli ist groß. Zu unserer Gemeinde gehören mehr als 5000 Mitglieder, und zwar auch aus der Schanze und dem Karoviertel. Der Kiez ist also nur ein Teil unserer Gemeinde, aber ein sehr spannender Teil. Die sogenannte sündige Meile ist ein Magnet für den Tourismus und man kann sich vorstellen, dass Glitzerlicht auch für Schatten sorgt. Da gucken wir hin, abseits des Touristenstroms.

Was bedeutet der für St. Pauli?

Wilm:

Der bedeutet, dass Kinder hier Zeugen von Gewalt werden, weswegen einer unserer Schwerpunkte auf der Jugendsozialarbeit liegt. Das bedeutet auch, dass wir hier weniger Senioren haben, weil der Stadtteil vielen irgendwann zu anstrengend wird. Aber es ist wichtig, für die da zu sein, die geblieben sind. Das sind oft Menschen, die wenig in die Rente eingezahlt haben. Die hinter dem Tresen oder auf den Bühnen standen und in Altersarmut leben. Generell zieht die Reeperbahn nicht nur Touristen an, sondern auch Gewalt. Wir können an manchen Tagen nicht zum Supermarkt gehen, weil Randale ist und Hundertschaften Straßen absperren.

Kommen Kiez-Besucher in Ihre Kirche?

Wilm:

Wir machen keine Touristenseelsorge. Manchmal bekomme ich die Frage, ob ich mich auch an den Tresen setze und mit den Leuten rede. Das kann man machen, aber das ist eigentlich nicht unser Aufgabenfeld. Ich kümmere mich eher um den Wirt, der hinter dem Tresen steht und um seine Familie.

Wie unterscheidet sich Ihre Gemeinde von anderen Gemeinden?

Wilm:

Nicht jede Kirche hat eine Kondomverkäuferin in der Gemeinde, eine frühere Wirtschafterin aus der Herbertstraße oder einen Latexschneider. Wir haben Kontakte in verschiedene Szenen, das ist uns wichtig. Es gibt nicht nur ein St. Pauli, es gibt viele St. Paulis. Wir kennen genauso Leute aus der Roten Flora und auch von der CDU. Dazu kommt, dass in vielen Gemeinden der Schwerpunkt der Gottesdienstbesucher die Senioren sind. Bei uns nicht. Das ist dadurch bedingt, dass wir statistisch den zweitjüngsten Stadtteil Hamburgs haben. Die Leute, die zu uns in den Gottesdienst kommen, sind zwischen 30 und 50. Unter 30-Jährige sind selten, die müssen sich wohl am Sonntag von den Partys erholen.

Welche Entwicklung beobachten Sie in Ihrer Kirche?

Wilm:

Spannend ist, dass es immer mehr Hochzeitsanfragen gibt. Früher hat man hier nie geheiratet, heute heißt es: "Meine Liebste habe ich unter den Palmen im Park-Fiction kennengelernt. Deshalb wollen wir hier heiraten." So fragen auch die Leute an, die ein schönes Kiezerlebnis hatten.

Im Kirchenschiff hängt ein Bild der Herbertstraße, warum?

Wilm:

Kirche und Stadtteil sind aufeinander bezogen, deshalb hängt das Bild hier. Als Erinnerung daran, dass in 100 Metern Entfernung die Herbertstraße liegt. Wir schaffen keine kirchliche Sonderwelt. Alles, was in der Kirche passiert, ist nur wichtig, wenn es seine Wichtigkeit auch auf der Straße behält. Die Interaktion muss bleiben, genau wie die Offenheit der Kirche. Deshalb kann man auch kommen, wenn man keinen Gottesdienst erleben will, sondern ein Konzert. Wir erwarten nicht, dass die Leute strenggläubig sind. Glaube und Zweifel sind Zwillingsgeschwister, die gehen immer zusammen.

Gibt es eine typische Kiez-Anekdote, die Ihnen in Erinnerung geblieben ist?

Wilm:

Es gibt hier viel Situationskomik. Es gibt allerdings auch ernste Geschichten. Ich finde es wichtig, dass die Leute wissen, dass wir auch eine Adresse sind für Trauer. Dass wir gerade in der Glitzerwelt hinter die Bühne oder den Tresen gehen. Auf dem Kiez gibt es ein Kommen und Gehen und in Anlehnung an den FC. St. Pauli sagen wir: "Unestablished since 1683" - wir bleiben hier. Läden schließen, Klubs steigen auf und fallen. Wir bleiben. Und gucken St. Pauli an, wenn die Schminke nicht mehr im Gesicht ist. Das können wir aushalten.

Sie arbeiten seit fast zehn Jahren hier. Wie hat sich der Stadtteil verändert?

Wilm:

Nur ein Beispiel: Vor fünf Jahren hatten wir noch 70 Prozent türkische Kinder im Kindertagesheim, jetzt sind es noch zwei türkische von insgesamt 70 Kindern. Das hängt zum Teil auch am Kita-Gutscheinsystem, was ein Problem ist. Es gibt immer noch viele türkische Kinder, aber die Mütter, die in prekären Arbeitsverhältnissen stehen, die nebenbei putzen - oft schwarz - die kriegen keine Gutscheine bewilligt. Das ist für die Sprachentwicklung der Kinder schlecht. Heute haben wir die Situation, dass wir in der Kita Kinder aus 14 Nationen haben. Aber auf dem Spielplatz wird heute tatsächlich deutsch gesprochen. Ich merke den Wandel auch bei Taufen und Hochzeiten. Ich hab immer noch die Kondomverkäuferin und den Lagerarbeiter, die ihre Kinder taufen lassen. Aber ich habe auch die Galeristin und den Kameramann. Wichtig ist, jeder ist willkommen. Wir müssen dafür sorgen, dass hier weiter Familien leben können. Wenn wir eine Penthouse-Mentalität bekämen, wäre das der Tod für den Stadtteil. Dadurch würde das wegfallen, was St. Pauli sexy macht.

In einem Satz: Was ist St. Pauli?

Wilm:

St. Pauli ist eine ungeschminkte Frau nach einer durchgemachten Nacht, die aber super herzlich ist und die man umarmen möchte.