Die Partei will auch für die Mitte attraktiv sein – doch nicht alle ziehen mit. Es gab einen doppelten Dämpfer für Co-Chefin Claudia Roth.

Freiburg. Es sind nur ein paar Sekunden, in denen Claudia Roth die Fassung verliert. Verstört sieht sie aus, da oben auf dem Podium. Als ob sie nicht so richtig glauben kann, was da weiß auf grün auf den Leinwänden steht. 79,3 Prozent. Von den 715 Delegierten haben sie 567 erneut in das Amt der Co-Vorsitzenden gewählt. Für sich genommen ist das ein ordentliches Ergebnis. Aber es ist nicht das, was Claudia Roth, 55, an diesem Nachmittag erwartet hat. "Das ist jetzt bitter für sie", sagt unten ein Parteimitglied.

Am Abend dann kommt es zu einer kleinen Revolte. Die Delegierten beschließen mit einer knappen Mehrheit, gegen eine Bewerbung Münchens für die Olympischen Spiele 2018 zu sein. Roth allerdings sitzt im Kuratorium der Bewerbergesellschaft. Das ist Dämpfer Nummer zwei. Und der Riss im Bild der demonstrativen guten Laune, der Harmonie und der Geschlossenheit.

Bei diesem 32. Parteitag in Freiburg haben sich die Grünen nach Leibeskräften bemüht, ja nichts falsch zu machen. Streit wurde tunlichst vermieden, Kontroversen schon im Vorfeld ausdiskutiert. Zu groß schien die Gefahr, die guten Umfragewerte zu riskieren und dem politischen Gegner eine Angriffsfläche zu bieten. "Jetzt geht es erst einmal um Konsens und Handlungsfähigkeit", sagt die Hamburgische Landesvorsitzende Katharina Fegebank im Gespräch mit dem Abendblatt, "um den anderen Parteien zu zeigen, wo der Hammer hängt." Im Grunde sehen das hier die meisten so. Den Denkzettel an die Parteichefin konnten sich die Delegierten dann aber trotzdem nicht verkneifen. Aus dem Bewerbungskuratorium für Olympia zieht sich Roth daraufhin zurück.

Deutlich besser läuft es für Cem Özdemir. Der 44-jährige Co-Chef wird mit 88,5 Prozent in seinem Amt bestätigt. Das ist eine Verbesserung von mehr als acht Prozentpunkten. Özdemir, so viel ist sicher, hat seine Partei hinter sich. Was das Spitzenpersonal betrifft, bleibt bei den Grünen alles beim Alten.

Was den Rest angeht, ist die Partei auf der Suche nach sich selbst. "Wer sind wir?" - diese Frage stellen viele Delegierte auf dem Podium und wissen zumindest, was sie nicht sein wollen - eine Dagegen-Partei nämlich. So wurden die Grünen vor einiger Zeit bei der FDP genannt. Als "Latte-Macchiato-Partei", wie es SPD-Parteichef Sigmar Gabriel ausgedrückt hatte, oder gar als "Bionade-Partei" fühlen sie sich aber auch nicht. Wer die Grünen dieser Tage erlebt, erlebt sie als eine Partei im Wandel. Das Umfragehoch hat die grundsätzliche Frage aufgeworfen, für wen man Politik machen will: für die links-alternativen Ökos oder doch für eine breite Masse? Auch wenn in Freiburg niemand von Flügeln sprechen mag - zwei Strömungen sind unverkennbar.

Auf der linken Seite positionieren sich Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke, der neu in den Parteirat gewählte Max Löffler oder die schleswig-holsteinische Landeschefin Marlene Löhr. Geht es nach ihnen, muss sich die Partei wieder schärfer auf urgrüne Themen konzentrieren. Dabei geht es auch um die Frage, wie sehr Besserverdienende zugunsten der Allgemeinheit belastet werden sollten - also darum, ob man es sich leisten kann, die neu gewonnene Klientel möglicherweise zu verprellen. Auf der anderen Seite stehen Realpolitiker wie Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer, dem am Wochenende ebenfalls der Sprung in den Parteirat gelang, oder Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckard. Sie fordern, die Grünen für alle Schichten zu öffnen und ganz pragmatisch an politische Fragen heranzugehen. "Visionen sind gut und wichtig, aber man muss sich auch überlegen, wie man die Forderungen dann vor Ort umsetzen kann", sagt auch Fegebank. Auf dem Parteitag sichtbar wird dieser Zwist dann so: Man isst Tofu und trinkt naturtrüben Apfelsaft aus Bio-Obst. Im Schleswig-Holstein-Block strickt eine Frau. Auf der anderen Seite der Halle, wo wie auf einer Messe die Parteitags-Sponsoren ihre Stände aufgebaut haben, geht die private Krankenversicherung, die die Grünen eigentlich gern abschaffen will, auf Kundenfang.

Die Parteispitze begegnet diesem Konflikt auf ihre Art: Özdemir spricht in seiner Auftaktrede auch von Wirtschafts- und Finanzpolitik. Fraktionschef Jürgen Trittin ermahnt zwar dazu, linke Positionen nicht aufzugeben, vertritt jedoch auch die Ansicht, dass eine handlungsfähige Alternative links von Schwarz-Gelb auch die Mitte überzeugen muss. "Am Ende wird sich anhand von Sachfragen entscheiden, welche Position die Partei einnimmt", glaubt Krista Sager, Hamburger Grünen-Abgeordnete und stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Partei im Bundestag.

Und noch ein Problem gibt es, dem sich die Grünen stellen müssen: Sie brauchen Personal, das auf Bundesebene ab 2013 vielleicht auch Ministerposten besetzen könnte. Schließlich hat man sich dazu entschlossen, die Regierung anzugreifen und die guten Umfragewerte in Wählerstimmen umzumünzen. Eine gut aufgestellte zweite Reihe hat die Partei auf Bundesebene nicht, fähige Nachwuchspolitiker finden sich vor allem in den Ländern. Der Hesse Tarek Al-Wazir gilt als Hoffnungsträger, genauso Tübingens OB Palmer oder der Fraktionsvorsitzende im Schleswig-Holsteinischen Landtag, Robert Habeck. Auch Hamburgs Stadtentwicklungssenatorin Anja Hajduk wäre eine denkbare Kandidatin. Ob einer von ihnen einen Wechsel in die Bundespolitik jedoch für möglich hält, ist völlig unklar.

Dass es gerade bei Spitzenposten so gut wie gar keinen Wettbewerb gibt, dürfte die Motivation dann auch eher bremsen als beflügeln. Sowohl Özdemir als auch Roth hatten keine Gegenkandidaten. Das war wohl kalkuliert, denn auch eine Kampfabstimmung hätte dem Bild der Geschlossenheit geschadet. Ganz aufgegangen ist diese Rechnung bekanntermaßen nicht.