Die Regierung einigt sich auf Laufzeitenverlängerung für Kernkraftwerke. SPD und Grüne kündigen Widerstand an. Es soll eine Großdemo geben.

Berlin. Mit einer Art Happening protestierten ein paar Hundert Atomkraftgegner gestern vor dem Kanzleramt gegen die von der Bundesregierung geplante Verlängerung der AKW-Laufzeiten . Sie ließen eine "radioaktive Wolke" aus 2000 schwarz-gelben Luftballons steigen. Doch die Regierungskoalition zeigte sich unbeeindruckt - auch vom ohrenbetäubenden Getröte der Vuvuzelas der Kernkraftgegner.

Am späten Sonntagabend sickerten dann die ersten Einzelheiten durch, auf die sich Kanzlerin Angela Merkel (CDU), die Fachminister, die Fraktionschefs und die Parteivorsitzenden Horst Seehofer (CSU) und Guido Westerwelle (FDP) nach monatelangem Streit in der schwarz-gelben Koalition geeinigt hatten. So sei ein Modell vereinbart worden, wonach sieben ältere Atomkraftwerke noch acht Jahre länger als bisher vorgesehen am Netz bleiben. Zehn neuere Reaktoren sollen noch 14 Jahre länger Strom liefern. Im Durchschnitt würde dies eine Verlängerung von zwölf Jahren ergeben. Nach dem Ausstiegsbeschluss von Rot-Grün würden die letzten Meiler in Deutschland etwa im Jahr 2025 abgeschaltet.

Zudem bleibt es dabei, dass die Atomkonzerne E.on, RWE, EnBW und Vattenfall von 2011 an eine Steuer von jährlich 2,3 Milliarden Euro an den Bund zahlen. Allerdings wird diese Abgabe auf sechs Jahre befristet. Weitgehende Einigung gab es über die Abschöpfung der Zusatzgewinne der Atomkonzerne bei längeren Laufzeiten. Neben der Steuer werden die Unternehmen "vertragliche Sonderzahlungen" in einen Fonds für Öko-Energien leisten. Demnach müssen die Stromversorger neun Euro pro Megawattstunde Atomstrom für die Förderung erneuerbarer Energien abführen. Das soll pro Jahr bis zu 300 Millionen Euro bringen. Nach Auslaufen der Atomsteuer sollen diese Zahlungen auf jährlich zwei bis drei Milliarden Euro anwachsen.

Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) und Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) traten nach der knapp zwölfstündigen Spitzenrunde kurz vor Mitternacht vor die Kameras und lobten den Kompromiss im Atomstreit. "Der Fahrplan in das Zeitalter der erneuerbaren Energie ist aufgestellt", sagte Röttgen. Es gebe dafür jetzt eine seriöse langfristige Finanzierung. Brüderle rechnete vor, dass insgesamt 15 Milliarden Euro generiert würden. Der Umbau der Stromversorgung werde forciert. Dies sei nicht nur wichtig für den Klimaschutz. Es gehe auch um die Technologieführerschaft Deutschlands. "Die Mühe hat sich gelohnt. Uns ist ein großer Wurf gelungen", sagte Brüderle.

Es wird noch eine ganze Weile dauern, bis klar ist, was der angepeilte Atomdeal für die angeschlagene Koalition bedeutet. Auf jeden Fall geht Schwarz-Gelb ein hohes Risiko: Würde das Bundesverfassungsgericht später das Atompaket kippen, wäre der Gesichtsverlust enorm.

Experten und Fachministerien haben die 17 deutschen Meiler in drei Gruppen einsortiert. In Gruppe eins die alten, kleinen Meiler Brunsbüttel, Isar 1, Neckarwestheim 1 und Philippsburg 1 - ihnen könnte als Erstes die Abschaltung drohen, weil sie sich wegen der neuen Atomsteuer und Kosten für die Nachrüstung aus Sicht der Versorger nicht mehr rechnen würden. In der zweiten Gruppe die älteren, aber deutlich größeren AKW Biblis A und B, Unterweser und Krümmel - auch sie wurden von den Konzernen mit Fragezeichen in Sachen Wirtschaftlichkeit versehen. In der dritten Gruppe die jungen Meiler Grafenrheinfeld, Gundremmingen B und C, Philippsburg 2, Grohnde, Brokdorf, Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2 - sie gelten als Perlen im Kraftwerkspark und würden besonders von der Laufzeitverlängerung profitieren. Zuletzt rangen gestern Nacht Innenminister Thomas de Maizière (CDU) und Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) noch um die Frage, bis zu welchem Laufzeitplus der Bundesrat außen vor gelassen werden kann.

Die Verquickung der Laufzeitenverlängerung mit der Einführung einer Brennelementesteuer hat der Bundesregierung erneut den Vorwurf der Lobbypolitik eingetragen. "Mit Atom-Strom dealt man nicht, Frau Merkel, Herr Röttgen!" hieß es auf Transparenten der Demonstranten. SPD-Chef Sigmar Gabriel erklärte: "Wer Geld gegen Sicherheit tauscht, begeht einen Ablasshandel, der schon vor 500 Jahren unmoralisch war." Linke-Fraktionschef Gregor Gysi warf der Koalition "Beschädigung der Demokratie" vor. Die Grüne Claudia Roth kündigte der Bundesregierung einen "heißen Herbst" an und rief zu einer Großdemonstration gegen die Atompolitik am 18. September in Berlin auf.