CDU/CSU, SPD und FDP wollen die Geschäftsordnung ändern und die Rechte von Parlamentspräsident Lammert beschneiden.

Berlin/Hamburg. Vordergründig geht es um die Geschäftsordnung. Doch die Neuregelung des Rederechts im Deutschen Bundestag ist für viele Parlamentarier ein regelrechter Maulkorberlass. Der Widerstand gegen die geplante Einschränkung der Rechte von Abweichlern stößt bei Abgeordneten aus allen Fraktionen auf heftigen Widerstand. Mit der Reform soll der Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) dazu verpflichtet werden, das Wort nur noch den von einer Fraktion benannten Rednern zu erteilen.

Andere Abgeordnete sollen ausnahmsweise und nur noch drei Minuten lang reden dürfen, und zwar "im Benehmen mit den Fraktionen". Bisher darf jeder Parlamentarier seine Abstimmung fünf Minuten lang begründen. Das soll künftig wegfallen. Über den Entwurf soll der Bundestag voraussichtlich am 26. April abstimmen.

+++ Dreister Maulkorb +++

Der CDU-Innenexperte Wolfgang Bosbach sieht in dem Entwurf die Rechte der Abgeordneten angegriffen. Eine lebendige Demokratie müsse es aushalten können, dass Parlamentarier auch einmal außerhalb der vorgegebenen Rednerreihenfolge das Recht bekommen, eine abweichende Meinung kurz zu begründen, sagte Bosbach dem Hamburger Abendblatt. "Dieses Recht darf auch nicht davon abhängig gemacht werden, ob die Fraktionsführung damit einverstanden ist oder nicht", betonte der Innenausschussvorsitzende des Bundestags.

Er forderte: "Wir sollten die bisherige parlamentarische Praxis beibehalten." Er selbst habe 18 Jahre lang nie von dem Recht Gebrauch gemacht, auch nicht bei den Debatten um die Euro-Rettungsschirme EFSF und ESM, sagte Bosbach. Er gehörte allerdings zu den Abweichlern in der CDU/CSU-Fraktion in den Abstimmungen zu EFSF und Fiskalpakt. Bosbach räumte ein: "Es fällt mir schwer, vor Publikum gegen meine eigene Fraktion zu argumentieren. Aber man sollte Kollegen, die es anders sehen, dieses Recht nicht nehmen."

+++ Abgeordnete wehren sich gegen Maulkorb +++

Die Hamburger FDP-Landesvorsitzende und Bundestagsabgeordnete Sylvia Canel warnte davor, die Rechte von Bundestagspräsident Lammert zu beschneiden. Lammert habe das Amt des Parlamentspräsidenten bisher tadellos geführt, sagte Canel dem Abendblatt. "Ich sehe keine Notwendigkeit, den Gestaltungsspielraum seiner Amtsführung einzuschränken." Canel schlug vor, mit dem Bundestagspräsidenten gemeinschaftlich darüber zu beraten und zu einer einvernehmlichen Regelung zu kommen, "ohne die Geschäftsordnung zu verändern". Die FDP-Politikerin nannte die geplante Neuregelung des Rederechts "absolut entbehrlich".

Der Chef der Linkspartei, Klaus Ernst, forderte im Abendblatt, für die Endabstimmung im Bundestag den Fraktionszwang aufzuheben. Jeder Abgeordnete müsse selbst frei entscheiden, ob er die Rechte des Parlaments einschränken wolle oder nicht. "Unter solchen Bedingungen könnte ich mir kaum eine Mehrheit für das Vorhaben vorstellen. Ich werbe für eine offene Debatte und eine Entscheidung ohne Druck", sagte Ernst weiter. Und: "Ein Maulkorb für Abweichler widerspricht dem Geist des Grundgesetzes."

Die Änderung der Geschäftsordnung geht zurück auf die Debatte um den Euro-Rettungsschirm im September des vergangenen Jahres. Bundestagspräsident Lammert hatte den prominenten Abweichlern Klaus-Peter Willsch (CDU) und Frank Schäffler (FDP) Redezeit eingeräumt. Sie durften am Rednerpult erläutern, warum sie den Rettungsschirm ablehnen.

Schäffler sprach nun in der "Tagesschau" von einem "peinlichen Vorgang für den Parlamentarismus". Das sei eine "Kastrierung des Parlaments durch die Abgeordneten". Gebraucht werde eine Parlamentsreform, "die die Debattenkultur im Plenum des Parlaments fördert und nicht unterdrückt", fügte Schäffler im "Handelsblatt" hinzu. Willsch mutmaßte laut ARD: "Als Erstes darf man nicht reden, dann nicht veröffentlichen, und dann kommt der Hausarrest? Das ist abenteuerlich."

Der parlamentarische Geschäftsführer der Grünen-Fraktion, Volker Beck, sagte, er werde seiner Fraktion vorschlagen, den Reformvorschlag an den Ältestenrat zurückzuüberweisen. Vier der fünf Vizepräsidenten des Bundestages lehnen die Reform ab. Hermann Otto Solms von der FDP sagte der "Süddeutschen Zeitung", er sehe keine ausreichende Begründung für den Vorstoß. Seine Grünen-Amtskollegin Katrin Göring-Eckardt sagte der Zeitung, mit der Reform würden die Rechte von Abgeordneten beschnitten, aber auch alle Möglichkeiten, die Debatten im Bundestag lebhafter zu gestalten.

Wenig begeistert von der Neuregelung ist Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse. Der Zeitung "Sonntag Aktuell" sagte der SPD-Politiker, die Abgeordneten könnten auch künftig darauf vertrauen, dass "der Sitzungspräsident souverän und weise darüber wacht, dass auch das Rederecht des einzelnen Abgeordneten gewahrt bleibt".

Eine starre Regelung, wer reden dürfe und wer nicht, sagte Thierse, "wäre nicht sinnvoll und entspräche weder dem Geist des Parlamentarismus noch dem Inhalt der Debatten".