Kanzlerin greift zum Radikalmanöver, Grüne zeitweise Volkspartei: Atom-Aus folgte turbulentes Jahr. Jetzt ist wieder Normalität eingekehrt.

Berlin. Es passiert nicht allzu häufig, dass Angela Merkel in Pathos verfällt. Nur manchmal, bei ihrem Lieblingsthema Euro-Rettung vielleicht. Aber sonst kennt man die Bundeskanzlerin vor allem statisch, nüchtern, sachlich. Sie kann damit durchaus die Köpfe ihrer Zuhörer gewinnen. Deren Herzen allerdings eher selten.

Anders war das vor ziemlich genau einem Jahr. Nur vier Tage nach der Katastrophe im japanischen Atomreaktor in Fukushima stand Merkel in einem dunkelroten Samtblazer neben dem damaligen Vizekanzler und FDP-Chef Guido Westerwelle im Kanzleramt. Ihre Mission: das radikalste energiepolitische Wendemanöver der deutschen Geschichte erklären - und eine 180-Grad-Umkehr so verkaufen, dass es nicht wie eine 180-Grad-Umkehr aussieht. Erst im Herbst zuvor hatte ihre Regierung die Laufzeiten der Atomkraftwerke in der Bundesrepublik um durchschnittlich zwölf Jahre verlängert. Jetzt sollte auf einmal alles anders sein. Vollbremsung. Volle Kraft zurück. Auch der Kanzlerin und ihren Redenschreibern ist klar gewesen, dass die Worte in so einem Fall etwas tiefschürfender sein müssen als sonst. Es ging um nichts Geringeres als um ihre Glaubwürdigkeit - eine der wertvollsten Währungen im politischen Geschäft.

+++ Mehr Optimismus! +++

+++ Gerangel bei den Grünen um die Spitzenkandidatur +++

"Wir können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen", sagte Merkel damals. "Denn die Ereignisse in Japan lehren uns, dass etwas, was nach allen wissenschaftlichen Maßstäben für unmöglich gehalten wurde, doch möglich werden könnte." Von "innehalten" sprach die Bundeskanzlerin, von Folgen für die ganze Welt, für Europa und natürlich auch "für uns in Deutschland". Alles gehöre auf den Prüfstand, ohne Tabus. "Meine Damen und Herren, die Menschen in Deutschland können sich darauf verlassen: Ihre Sicherheit und ihr Schutz sind für die Bundesregierung und für mich ganz persönlich oberstes Gebot. Es gilt der Grundsatz: im Zweifel für die Sicherheit."

Seit diesem Tag hat sich viel getan. Für einige Wochen und Monate wurde das politische Machtgefüge der Bundesrepublik auf den Kopf gestellt. Die Grünen kletterten in den Umfragen auf ungeahnte Höhen bis an die 30-Prozent-Marke heran - sogar über den Status als Volkspartei und einen eigenen Kanzlerkandidaten wurde diskutiert. Die schwarz-gelbe Koalition musste gleichzeitig heftige Niederlagen hinnehmen. Die FDP flog aus mehreren Landtagen. Die CDU verlor nach 60 Jahren ihr Stammland Baden-Württemberg - ausgerechnet an den ersten grünen Ministerpräsidenten Deutschlands. Heftige Debatten wurden ausgefochten über die Umsetzung des geplanten Mammutprojekts. Es war, als hätte dieses Land einmal ganz tief eingeatmet und seine Lungen bis zum Bersten mit Luft gefüllt. Und ganz langsam, Stück für Stück, die Luft wieder herausgelassen. Die Aufregung ist abgeebbt. Jetzt, nach einem Jahr Fukushima und nach einem Jahr Energiewende, sind wir fast wieder da, wo wir am Anfang waren.

+++ Energiewende setzt die vier Energieriesen unter Druck +++

Was zunächst an Maßnahmen nach Merkels mit Pathos gespickter Rede vereinbart wurde, ist bekannt: das Sofort-Aus der acht ältesten Meiler, darunter Unterweser, Krümmel und Brunsbüttel. Bis 2022 sollen auch die restlichen neun Atomkraftwerke vom Netz und zugleich der Ökostromanteil bis 2020 auf mindestens 35 Prozent gesteigert werden - bis 2050 sollen es sogar 80 Prozent sein. Gegenwärtig liegt dieser Anteil bei rund 20 Prozent - das sind vier Prozentpunkte mehr als im März 2011.

Trotzdem hat sich schnell herausgestellt, dass das gesamte Projekt ein viel größerer Kraftakt werden wird als in der Anfangseuphorie vermutet. Ein Großteil des Weges ist noch zu gehen - der Netzausbau stockt, der Ausbau der so wichtigen Offshore-Windkraftanlagen auf Nord- und Ostsee ebenfalls. 2000 sollen es bis 2020 sein. 50 Windräder stehen bislang. Experten rechnen schon damit, dass das angepeilte Ziel verfehlt werden könnte. Und auch die Umrüstung der Wohnungen und Häuser der Deutschen zu mehr Energieeffizienz geht bei Weitem nicht so voran wie eigentlich geplant. Ein Gesetzesentwurf, nach dem Hausbesitzer Sanierungskosten besser von der Steuer absetzen können sollten, wurde von den Ländern im Bundesrat kassiert. "Wir sind an wichtigen Punkten nicht zügig genug vorangekommen", kritisierte gestern der ehemalige Umweltminister Klaus Töpfer (CDU).

Der Glaubwürdigkeit der Kanzlerin hat der Holperstart des Projekts Ausstieg vom Ausstieg langfristig trotzdem nicht geschadet. Zumindest noch nicht. Im Frühjahr 2012 ist sie Deutschlands beliebteste Politikerin. Die politische Kehrtwende ist rhetorisch zur Energiewende geworden, die mit der Politik der Kanzlerin verknüpft wird. Das im März 2011 kurzzeitig vorherrschende öffentliche Meinungsbild, Merkel habe nicht auf rationaler Grundlage, sondern angesichts der damals bevorstehenden Wahlen in Baden-Württemberg aus taktischem Kalkül gehandelt, konnte sich nicht nachhaltig bei den Wählern festsetzen. Merkel hat es geschafft, in diesem Punkt Führung zu zeigen - sehr zum Ärger der Grünen. Für sie ist die Energiewende von Anfang an ein zweischneidiges Schwert gewesen.

Auf der einen Seite hat die Öko-Partei einen Sieg errungen - schließlich haben mit dem Atom-Aus auch alle anderen Parteien eingesehen, was sie schon immer gewusst hat. Eines der größten Projekte in der Geschichte der Bundesrepublik haben die Grünen mit ihrer vehementen Atomgegnerschaft maßgeblich vorangetrieben. Der Lohn: ein beispielloser Höhenflug in den Umfragen, der erste grüne Ministerpräsident. Auf der anderen Seite wurde spekuliert, ob den Grünen mit der Energiewende jetzt nicht ihr Hauptthema weggebrochen sei.

Auch hier hat sich alles weit weniger dramatisch entwickelt, als einige befürchtet hatten. Nach wie vor ist Energie das Hauptbetätigungsfeld der Grünen. Ob Umsetzung der Energiewende oder Endlager-Suche - es gibt noch viele Punkte, an denen sich die Partei profilieren kann. Eine anfangs vermutete Annäherung an die CDU ist ebenfalls - zumindest nach außen - wieder abgekühlt. Auch wenn mit dem Atom-Aus eine wesentliche Hürde für eine schwarz-grüne Koalition gefallen ist, gibt es noch viele Politikfelder, in denen beide Parteien meilenweit voneinander entfernt sind. Selbst in den Umfragen haben sich alle wieder da eingependelt, wo sie vor der Energiewende waren. In der letzten Forsa-Umfrage vor dem Beben in Japan kam die Union auf 36 Prozent, die SPD auf 26, die Grünen auf 16, die FDP auf fünf Prozent und die Linke auf zehn Prozent. Das war am 9. März 2011. Die aktuellen Werte, zwei Tage alt, ebenfalls von Forsa: Union 37 Prozent, SPD 26, Grüne 15, FDP drei Prozent, Linke acht. Das sind nur minimale Veränderungen, vor allem wenn man es auf die Hauptakteure bezieht. Das einzig Neue ist nun die Piratenpartei - sie wird allerdings nicht mit dem Thema Energiewende verknüpft.

Nachhaltig verändert hat sich allerdings die Meinung der Deutschen. 76 Prozent stehen weiter hinter dem Ausstieg, wie er vor einem Jahr beschlossen wurde, 21 Prozent halten ihn für nicht richtig, ermittelte das ZDF-Politbarometer. Vor der Laufzeitverlängerung im Herbst 2010 hatten sich nur 45 Prozent der Befragten für einen Ausstieg bis 2022 ausgesprochen.