Neben der Bundeswehr sollen auch private Firmen deutsche Schiffe vor Piraten schützen. Experten fordern Kooperationen mit somalischen Clanchefs.

Hamburg. Ein kleines Motorboot rast mit 20 Knoten auf den Frachter zu, etwa 1,6 Seemeilen ist es noch entfernt, als die Besatzung des Frachters die Angreifer entdeckt. Der Kapitän sendet sofort einen Notruf aus in Richtung Marine. Als die Crew auf dem Motorboot der Piraten Waffen sichtet, feuert das Sicherheitsteam an Bord Warnschüsse ab. Die Piraten schießen mit einer Kalaschnikow AK-47 zurück. Heftige Schusswechsel folgen, 50, vielleicht sogar 60 Salven feuert das Team an Bord des Frachters ab. Erst dann brechen die Piraten ihren Angriff ab. Und der von der Marine entsandte Helikopter fliegt vorzeitig zum Stützpunkt zurück. Es ist der 22. Februar 2012, kurz vor Mittag, im Golf von Aden vor der Küste des Jemen.

Viele dieser Geschichten sind nachzulesen auf der Internetseite des Internationalen Schifffahrtsbüros (IMB) mit Sitz in London. Tag für Tag tragen sie in den "Live Piracy Report" die Attacken der Piraten auf Handelsschiffe ein. Nach Angaben des IMB gab es allein in diesem Jahr 62 Angriffe von Piraten auf Handelsschiffe - fast die Hälfte davon vor der Küste Somalias. Noch immer sind sechs Frachter in der Hand von somalischen Piraten. 177 Seeleute halten sie in Geiselhaft.

Zwar ging die Zahl der Angriffe 2011 zurück. 439 waren es im vergangenen Jahr, 445 in 2010. Doch das Geschäft mit der Piraterie läuft auf Hochtouren. Und es ist für die Angreifer sehr lukrativ. Angeblich 240 Millionen Dollar sollen laut Zeitungsberichten allein die somalischen Seeräuber 2010 kassiert haben. Ein großer Teil davon fließt in Immobiliengeschäfte in Kenia, wo viele Somalier leben.

Der Kampf gegen die Überfälle auf See wird hartnäckig geführt. Reeder rüsten ihre Schiffe mit privaten Sicherheitsleuten auf, die Vereinten Nationen haben gestern die westafrikanischen Staaten wie Nigeria und Benin aufgefordert, schärfer gegen Piraten vorzugehen. Die Überfälle auf die Schifffahrt haben vor Afrikas Westküste deutlich zugenommen. Im Rahmen der von der Europäischen Union geführten Mission "Atalanta" ist auch die Bundeswehr am Kampf gegen Piraten beteiligt. Drei Fregatten mit vier Bordhubschraubern und drei Aufklärungsflugzeugen sind bei "Atalanta" im Einsatz. Auch Chinesen, Amerikaner, Briten und Inder haben Kriegsschiffe nach Afrika entsandt.

Doch noch immer ist der Schaden durch Piraterie für die Wirtschaft enorm, die Gefahr für das Leben der Besatzung ist groß. 2011 wurden bei Geiselnahmen durch Piraten acht Seeleute getötet. Und Schiffe deutscher Reedereien sind laut der niedersächsischen Landesregierung am häufigsten von Überfällen betroffen. Nach Hamburg ist Niedersachsen mit 160 Reedereien der zweitgrößte maritime Standort Deutschlands, das 90 Prozent seines Außenhandels per Schiff abwickelt.

Niedersachsens Ministerpräsident David McAllister (CDU) will nun den Druck auf die Bundesregierung erhöhen, schnell einen besseren Schutz für Schiffe unter deutscher Flagge durchzusetzen. In einer Initiative, die heute in den Bundesrat eingebracht wird, fordert die Regierung in Hannover von der Bundesregierung ein Gesamtkonzept zum Schutz gegen Angriffe auf See - vor allem eine bessere Vernetzung von Reedereien, Sicherheitsfirmen, Bundespolizei und der Marine. "Sichere Seewege sind für Deutschland, mit der drittgrößten Handelsflotte der Welt, von elementarer Bedeutung", sagte McAllister dem Abendblatt. Um diese Position zu halten, müsse die Bundesregierung dringend etwas tun. In "besonderen Gefährdungslagen" halte der Bundesrat eine "individuelle Begleitung von deutschflaggigen Schiffen durch hoheitliche Sicherheitskräfte für erforderlich", heißt es in der Initiative Niedersachsens. Die Regierung solle dafür Kräfte, also Polizei und Marine, sicherstellen.

Wer soll die deutschen Schiffe schützen? Bundeswehr? Private Kräfte? Was davon ist bezahlbar, welche Kosten trägt der Bund? Über diese Fragen debattieren Reeder, Politiker und Experten seit Jahren. Bisher sind deutsche Soldaten am Horn von Afrika nur auf Schiffen des Welternährungsprogramms an Bord. Alles andere erlaube die rechtliche Vorgabe der EU-Operation "Atalanta" nicht, sagte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums dem Abendblatt. Und ein "flächendeckender Schutz von deutsch geflaggten Handelsschiffen durch Kräfte der Bundeswehr" sei "ressourcenbedingt nicht möglich".

Der Schutz aller deutsch geflaggten Schiffe durch Soldaten an Bord ist für die Regierung nicht finanzierbar. Nach Angaben des Deutschen Reederverbands stehen von etwa 4000 Schiffen der Reedereien nur knapp 500 unter deutscher Flagge. Viele sind zwar hier registriert, aber von Staaten wie Liberia geflaggt, um Auflagen der deutschen Beflaggung zu umgehen. So sind Schiffe unter deutscher Flagge beispielsweise verpflichtet, mindestens fünf Europäer in der Crew an Bord zu nehmen. Für die Reeder steigen die Personalkosten.

Und Schiffe unter deutscher Flagge sind derzeit wenig geschützt gegen Angriffe von Piraten. Denn private Sicherheitsdienste an Bord sind bisher verboten. Erst kürzlich hat die große Reederei Hamburg Süd drei Frachter nach Liberia ausgeflaggt - um jetzt bewaffnete Kräfte mit auf die Fahrt zu nehmen.

Die Koalition von Union und FDP will nun privaten deutschen Sicherheitsfirmen Lizenzen zum Schutz deutscher Handelsschiffe vor Piraten erteilen. Bis zum Sommer solle eine Regelung getroffen werden. Die Bundesregierung will sich dabei an die Richtlinien der Internationalen Schifffahrtsorganisation (IMO) halten, die klare Regeln für Zulassung und Einsatz der Sicherheitsleute an Bord vorgibt: so zum Beispiel Auflagen wie Waffenscheine, Gewähr für den Einfluss des Kapitäns auf die Arbeit der bewaffneten Kräfte, Einhaltung der Verhältnismäßigkeit bei der Verteidigung.

Der Deutsche Reederverband begrüßt die geplante Zertifizierung von Sicherheitsfirmen durch die Behörden. Sie sei "ein wichtiger Schritt zum Schutz der deutschen Schiffe", sagte Geschäftsführer Max Johns dem Abendblatt. Sicherheit können die Reeder dann einkaufen. Und das nicht gerade günstig. Für eine Fahrt am Horn von Afrika mit vier privaten Sicherheitsleuten an Bord und einer Dauer von drei bis vier Tagen rechnet der Verband mit Kosten von etwa 50 000 Dollar - wobei Unternehmen an Kosten für die Versicherung des Schiffes sparen.

Experten kritisieren allerdings den Einsatz von Sicherheitskräften. "Falls unbeteiligte Menschen aufgrund eines Irrtums zu Schaden kommen, sind rechtliche und politische Problemlagen vorprogrammiert", sagt Torsten Geise vom Giga-Institut in Hamburg. Der Staat gibt das Gewaltmonopol in private Hände. Zudem könnten Piraten ebenfalls aufrüsten - es drohe eine Spirale der Gewalt, befürchten Kritiker.

Für Geise wird der Kampf gegen die Piraterie sowieso nicht auf Wasser entschieden - sondern vor allem an Land. Entscheidend sei "eine Stabilisierung der politischen Situation am Horn von Afrika und eine sozioökonomische Perspektive für die Menschen in den afrikanischen Staaten", sagte er dem Abendblatt. Wichtig sei auch die Verfolgung der organisierten Kriminalität durch Hintermänner an Land. "Die Geldströme müssen aufgedeckt werden", so Geise. Beides verlange nach der besseren Einbindung der afrikanischen Staaten in den Kampf gegen Piraterie. Und nach Kooperation mit Clanchefs und moderateren Islamisten in Somalia. Die Weltgemeinschaft habe durch ihr bisheriges Zögern eine Chance im Kampf gegen Piraterie verpasst. Jetzt kontrollieren die Milizen der radikalen al-Shabaab viele Regionen Somalias. "Mit ihnen in einen Dialog zu treten ist weitaus heikler", sagt Geise.