Bundesverfassungsgericht stärkt die Rechte des Bundestags und will nur wenige Entscheidungen einer kleinen Sondergruppe überlassen.

Berlin. Im Herbst des vergangenen Jahres hatten Peter Danckert und Swen Schulz genug. Sie fühlten sich bevormundet, in ihren Rechten als Bundestagsabgeordnete beschränkt und nicht ausreichend informiert. Auf eigene Faust und ohne die Unterstützung ihrer Fraktion klagten die beiden SPD-Parlamentarier vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den Entschluss der Fraktionen, ein Geheimgremium aus neun Bundestagsabgeordneten zur Kontrolle des Euro-Rettungsschirms EFSF einzusetzen. Im Sonderausschuss sollten eilbedürftige und vertrauliche Maßnahmen zur Euro-Stabilisierung abgesegnet werden. Milliardenschwere Entscheidungen auf den Schultern von neun Abgeordneten? Danckert und Schulz wollten nicht glauben, dass die deutsche Demokratie auch in Eurokrisen-Zeiten so funktioniert. Sie sollten recht behalten.

Karlsruhe stoppte im Oktober in einer einstweiligen Anordnung dieses Neuner-Gremium. In ihrem Urteil gaben die Verfassungsrichter gestern den Klägern nun weitgehend recht (Az.: 2 BvE 8/11): Bis auf wenige Ausnahmen erklärte Karlsruhe den Mini-Sonderausschuss für verfassungswidrig. Nur bei den als besonders für die Märkte sensibel erachteten Käufen von Staatsanleihen zur Unterstützung von kriselnden Schuldenstaaten hat die Neuner-Runde ihre Berechtigung. Dann gilt strikte Vertraulichkeit, vor der auch Abgeordnetenrechte haltmachen müssen. Darüber hinaus sahen die Richter die übrigen 611 Abgeordneten in ihren Rechten verletzt. "Der Deutsche Bundestag erfüllt seine Repräsentationsfunktion grundsätzlich in seiner Gesamtheit, durch die Mitwirkung aller seiner Mitglieder, nicht durch einzelne Abgeordnete, eine Gruppe von Abgeordneten oder die parlamentarische Mehrheit", heißt es in einem Leitsatz des Urteils, das der Zweite Senat fällte. Budgetrecht und haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Bundestages würden grundsätzlich durch Verhandlung und Beschlussfassung im Plenum wahrgenommen, so die Richter.

Mit anderen Worten: Keine der EFSF-Notmaßnahmen könne so eilig sein, dass sich nicht der Bundestag damit befassen kann. Nur wenn die 620 Parlamentarier nicht mehr zusammengerufen werden können, soll der Haushaltsausschuss mit seinen 41 Mitgliedern entscheiden. Das Plenum bekommt wieder mehr Macht und mehr Verantwortung. Entscheidungen über Milliardenhilfen gehen jeden Abgeordneten etwas an - nicht nur, wenn es wie am Montag um ein 130 Milliarden Euro teures Griechenland-Rettungspaket geht. Auch diese Hilfsmaßnahmen laufen über den Rettungsfonds EFSF. Deutschland garantiert im Fonds mit bis zu 211 Milliarden Euro.

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Für besagte Ausnahmen bleibt das Neuner-Gremium erhalten, muss sich aber anders konstituieren: Um die Machtverhältnisse des Bundestags zu spiegeln, soll die Union vier statt bislang drei Abgeordnete in den Ausschuss entsenden. Dafür muss die FDP einen ihrer zwei Abgeordneten abgeben. Zur Urteilsverkündung war als einziges Mitglied der erweiterten Bundesregierung der parlamentarische Finanzstaatssekretär Steffen Kampeter (CDU) nach Karlsruhe gereist. Im Abendblatt-Gespräch machte er deutlich, dass er die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung unberührt sieht. Das Bundesverfassungsgericht habe in einem zentralen Punkt, den Sekundärmarktaktivitäten, klargestellt, dass das Neuner-Gremium zuständig sei und entscheiden könne. "Das zeigt auch, dass Deutschland voll handlungsfähig ist." Der Bundestag als Gesetzgeber müsse die Ausgestaltung der Beteiligungsrechte im Lichte des Urteils, das nun in Ruhe anzusehen sei, in einem begrenzten Umfang korrigieren. "Das Urteil hat auch den Haushaltsauschuss gestärkt", betonte der frühere haushaltspolitische Sprecher der Unionsfraktion. "Das ist ein wichtiges Signal für die Selbstorganisation des Parlaments." Grundsätzlich gelte: "Der Bundestag muss sich seiner haushaltspolitischen Gesamtverantwortung stellen. Die Grundfrage der demokratischen Legitimität unserer europäischen Integrationspolitik ist durch das Urteil gewährleistet."

Über die Kräfteverteilung jener haushaltspolitischen Gesamtverantwortung stritten Koalition und Opposition auch am Tag nach der verfehlten Kanzlermehrheit bei der Griechenland-Abstimmung. Der parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Peter Altmaier (CDU), wies darauf hin, dass Schwarz-Gelb allein eine einfache Mehrheit im Parlament erreicht hätte - auch ohne Stimmen von SPD und Grünen. Die psychologisch wichtige Kanzlermehrheit von 311 Stimmen - bestehend aus der absoluten Mehrheit plus einer Stimme - hatte die Koalition um sieben Stimmen verfehlt. Die Kanzlermehrheit werde nur bei Kanzlerwahlen benötigt, versuchte FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle die Debatte einzudämmen. Nach Ansicht von SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier ist der "Zerfall der Koalition" dagegen in vollem Gange. "Inzwischen ist die Grenze zur Handlungsunfähigkeit erreicht", sagte er im "Tagesspiegel". Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin sprach von einer "Kanzlerinnendämmerung".

Die FDP-Spitze machte die Union für das Verfehlen der Kanzlermehrheit verantwortlich. "Wir sehen mit Sorge, dass die Zustimmung zum Euro-Kurs der Bundesregierung innerhalb der Unionsfraktion ganz offensichtlich kontinuierlich schwindet", sagte Generalsekretär Patrick Döring. Bei der FDP hatten vier Abgeordnete mit Nein gestimmt, zudem gab es eine Enthaltung. Dies entspricht der Zahl der Abweichler bei der Abstimmung zur Ausweitung des EFSF im Oktober. Bei CDU/CSU votierten 13 Parlamentarier mit Nein, zwei enthielten sich.