Bund, Länder und Gewerkschaften können sich nur auf die Einordnung der Berufsabschlüsse in ein europaweites Ranking einigen.

Berlin. Was ist das Abitur in Deutschland wert? So viel wie eine abgeschlossene Berufsausbildung? Oder doch mehr? Weil die EU seit 2008 eine Kategorisierung der Abschlüsse von ihren Mitgliedstaaten verlangt, musste sich seitdem auch die Bundesrepublik dieser Frage stellen. Lange wurde gerungen. Lange waren die Fronten verhärtet. Am Dienstag haben sich die Kultusminister der Länder , Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU), Berufsverbände und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) auf einen Kompromiss verständigt. Die Berufsabschlüsse sind jetzt klar kategorisiert. Die Entscheidung über den Wert des Abiturs und anderer Schulabschlüsse wird hingegen um fünf Jahre verschoben - und ein heißes Eisen damit vorerst wieder beiseitegelegt.

Es geht dabei um den Europäischen Qualifikationsrahmen EQR. Das klingt kompliziert und ist es auch - aber es geht um vieles. Der EQR ist sozusagen eine Schablone, die über das bildungspolitische Europa gelegt wird - eine achtstufige Rangliste, in die die EU-Staaten alle ihre verschiedenen Abschlüsse und Bildungsgrade einordnen sollen, um sie vergleichbar zu machen. Stufe eins ist das niedrigste Niveau, Stufe acht das höchste. Ein Chef in Italien weiß dann zum Beispiel mit der entsprechenden Zahl auf dem Zeugnis genau, was ein Bewerber aus Portugal mitbringt - auch wenn es den Abschluss des Portugiesen in dieser Form in Italien gar nicht gibt.

In der Bundesrepublik soll die nationale Version dieser Acht-Stufen-Liste "Deutscher Qualifikationsrahmen" (DQR) heißen. Auf jeder Stufe werden die Felder "Wissen", "Fertigkeiten", "Sozialkompetenz" und "Selbstständigkeit" erhoben und ausführlich beschrieben. Strittig war dabei in der Vergangenheit vor allem, ob das Abitur und die abgeschlossene Berufsausbildung als gleichwertig angesehen werden oder nicht. Während die Kultusministerkonferenz (KMK) dafür plädiert hatte, das Abitur mit Stufe fünf besser zu stellen als die Berufsausbildung (Stufe vier), hatten vor allem Berufsverbände, Gewerkschaften und auch Schavan eine Gleichwertigkeit gefordert. Beides sollte auf Stufe vier stehen und das Abitur folglich nicht bevorteilt werden. Dass die KMK ihre Vorstellung nun nicht durchdrücken konnte, liegt vor allem an der heftigen Kritik, die ihr entgegenschlug. Für die Sozialpartner war die niedrigere Einordnung eine unfaire Benachteiligung der beruflichen Bildung - und einen Angriff auf das deutsche System der betrieblichen Lehre. Sogar von einem "Kulturkampf" war die Rede. Otto Kentzler, Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks, betonte gestern: "Deutschland braucht nicht nur Dichter und Denker."

Schavan betonte, man nehme jetzt "jene Berufsabschlüsse auf, die einen unmittelbaren Bezug zum Arbeitsmarkt haben". Damit zeigte sich jetzt auch der neue KMK-Präsident, Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD), einverstanden. Er hatte schon bei der offiziellen Übernahme seines neuen Amtes in der vergangenen Woche eingestehen müssen, dass der Verzicht auf die Einordnung der Schulabschlüsse "zu den möglichen Auswegen aus dieser schwierigen Situation" gehöre - auch wenn dies "sicherlich nicht die erste Wahl" sei.

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Konkret sehen die Pläne für das deutsche Ranking jetzt so aus: Auf den DQR-Niveaus eins und zwei wird die Berufsausbildungsvorbereitung angesiedelt, auf Niveau drei die zweijährige Berufsausbildung und Stufe vier die drei- und dreieinhalbjährige Lehre. Auf Platz fünf sollen Fortbildungen stehen, die vergleichbar sind mit dem IT-Spezialisten. Niveau sechs erreichen der Bachelor, der Meister, der Fachwirt und die Fachschulabschlüsse wie Techniker - eine Einigung, auf die vor allem Kentzler besonders stolz ist.

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Auch für Schavan wird die Gleichstellung eines Meisters mit dem Bachelor-Absolventen "die größte bildungspolitische Wirkung haben". Denn damit werde deutlich: "In Deutschland hat jeder die Chance zum Aufstieg, über den akademischen Weg genauso wie über den Weg der beruflichen Bildung." DGB-Vize Ingrid Sehrbrock formuliert es so: "Es ist jetzt möglich, die Stufe sechs zu erreichen, ohne die Hochschule auch nur für einen Tag von innen gesehen zu haben."

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Auf Stufe sieben lassen sich all jene verorten, die einen Master-Abschluss oder etwa ein Diplom erworben haben. Der höchste Rang, Nummer acht, ist den Doktoren vorbehalten. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) ist zufrieden mit dieser Kompromisslösung. DIHK-Präsident Hans Heinrich Driftmann sagte dem Abendblatt, er sehe in der "Vereinbarung zur DQR-Zuordnung eine wichtige Weichenstellung". Nun könne jenseits der Abiturfrage an der Entwicklung eines Qualifikationsrahmens weitergearbeitet werden. Für Driftmann ist der Konsens mit der Kultusseite vertretbar, "weil es vorrangig um die Erhöhung von Transparenz und Mobilität auf dem europäischen Arbeitsmarkt geht". Deshalb könnten Qualifikationen ohne konkreten Arbeitsmarktbezug - wie die allgemeinbildenden Schulabschlüsse - in einem ersten Schritt außen vor bleiben, so der DIHK-Präsident. Isoliert steht Deutschland mit diesem Vorhaben jedenfalls nicht. Auch Frankreich hat wegen ähnlicher Probleme den Verzicht auf die Kategorisierung der Schulabschlüsse gewählt. "Wir glauben, dass wir damit nicht allein bleiben", sagte Rabe zudem. Es sei auch darum gegangen, zu zeigen, dass der EQR-Prozess nicht ins Stocken geraten sei, betonte er. Ursprünglich sollte nämlich bereits mit Beginn dieses Jahres auf jedem neuen Zeugnis die erreichte Qualifikationsstufe ausgewiesen werden.

In fünf Jahren wird die jetzt gefundene Lösung auf den Prüfstand gestellt. Dann soll auch noch einmal über den Wert der Schulabschlüsse diskutiert werden. Für DIHK-Chef Driftmann bietet das "die Chance, die Zuordnungsfrage vor dem Hintergrund der bis dahin gemachten Erfahrungen - gerade auch im EU-Ausland - neu zu beantworten."