Vor 20 Jahren stand der gestürzte DDR-Diktator abends vor der Tür von Pastor Uwe Holmer. Wie Christ und Kommunist unter einem Dach lebten.

Lobetal. Es ist schon dunkel an jenem Dienstag, als drei Staatslimousinen der Deutschen Demokratischen Republik vor dem Lobetaler Pfarrhaus vorfahren. Ein bleicher alter Mann steigt aus. Es ist Erich Honecker. Er hat alles verloren: seine Macht, seine Freunde, sein Haus, seine Gesundheit. Als Staatsratsvorsitzender der DDR wurde er gestürzt, seine einstigen Freunde wollen ihn jetzt vor Gericht bringen, seine Funktionärs-Villa in Wandlitz haben sie ihm weggenommen. Honecker hat einen unheilbaren Nierentumor. Er ist krank und obdachlos, Freiwild: Viele Opfer des DDR-Regimes wollen ihn zur Rechenschaft ziehen, gerne auch mit Fäusten. Die Mauer ist weg, die Wiedervereinigung naht. Es ist der 30. Januar 1990.

Seine einzige Zuflucht vor der Lynchjustiz ist ausgerechnet die Institution, die sein Staat erbittert bekämpft hat: die Kirche. Seine Rettung ist ein Mann, den Honeckers Partei ins Gefängnis stecken wollte und dessen zehn Kinder nicht aufs Gymnasium gehen durften: Pastor Uwe Holmer. Holmer, ein Mecklenburger mit kantigem Gesicht und freundlichen blauen Augen, geht auf seinen Gast zu: "Guten Abend, Herr Honecker, Sie sind uns willkommen." Honecker sagt: "Ich danke vielmals, dass wir bei Ihnen sein können." Die Bodyguards tragen noch die Koffer ins Haus, dann sind sie weg. Jetzt ist er schutzlos. Nur seine Frau Margot ist bei ihm. Und die Holmers.

Neun Wochen werden Honecker und Holmer unter einem Dach wohnen, zusammen essen, spazieren gehen. Auch 20 Jahre später klingt diese Geschichte verrückt. Auch, weil Holmer heute sagt: "Wir haben uns gemocht."

Uwe Holmer ist 80 Jahre alt, wohnt nicht mehr in Lobetal bei Berlin, sondern in Serrahn in Mecklenburg. Seine Haare kämmt er immer noch zum Scheitel. Nur dass sie jetzt weiß sind und nicht mehr dunkel wie 1990. Die Zehn Gebote sind für Uwe Holmer "absolute Norm". Deshalb passte er nicht in die DDR. Aber irgendwie passt er auch nicht in die heutige Zeit: Er ist unbeirrbar. Er gehorcht der Regierung, wo sie Gutes tut, und leistet Widerstand, wo er Unrecht sieht. Er kann nicht anders.

Holmer kam in Wismar zur Welt und wuchs in einer christlichen Familie auf. Als 15-Jähriger legte er sich mit der Hitlerjugend an, weil er nicht zur SS wollte. Er kam damit durch. Nach dem Krieg wurde der Vater arbeitslos, weil er sich in der Kirche engagierte. 1953 flüchteten die Holmers über Berlin in den Westen. Doch Uwe blieb. "Hier werden Pastoren gebraucht", sagte er zu seinen Eltern. Holmer studierte Theologie in Rostock, heiratete, bekam sein erstes Pfarramt in Mecklenburg. "Heute sitzt ein Aufpasser im Gottesdienst", wurde er oft gewarnt. Er scheute den Konflikt nicht: Als Bauern enteignet wurden und Holmer dagegen protestierte, drohte ihm die SED mit Gefängnis. Doch er machte weiter: weigerte sich, vor der Kamera das System zu loben, hielt kritische Predigten, machte bei Volkskammerwahlen seinen Wahlzettel absichtlich ungültig. 1983 wurde er Leiter der Hoffnungsthaler Anstalten - einer kirchlichen Einrichtung für Behinderte und alte Menschen in Lobetal.

Erich Honecker war da schon Staatsratsvorsitzender. Holmer sah ihn im Fernsehen und in der Zeitung. Natürlich war Honecker schuldig, sagt Holmer: an den Schüssen an der Mauer, den gefälschten Wahlen, den Zwangsenteignungen. Holmer sagt, dass Honecker ein politisch verführter Verführer war: "Sein Fanatismus hat ihn zu Verbrechen hingerissen. Er war objektiv ein Verbrecher, aber subjektiv nicht. Er war milde und sensibel. Er war kein brutaler Mensch."

Es klingt, als wolle er ihn verteidigen. Obwohl Honeckers Überwachungsstaat acht Stasi-Spitzel auf den Pastor von Lobetal angesetzt hatte. Und obwohl alle zehn Kinder der Holmers trotz bester Noten nicht aufs Gymnasium durften. Weil sie nicht bei der FDJ mitmachten und die Jugendweihe ablehnten. Holmer protestierte, beim Kreisschulrat, bei der SED, bei der Volksbildungsministerin Margot Honecker. Keine Antwort. "Ich habe meinen Ärger damals bei Gott abgegeben. Er hat gesagt: Die Rache ist mein."

Doch als Erich Honecker am 30. Januar 1990 bei ihm Asyl sucht, empfindet Uwe Holmer kein Triumphgefühl. "Dass der ehemals oberste Kommunist beim Pastor ankommt, war schon eine gewisse Genugtuung. Ich war dankbar, dass Gott sich durchgesetzt hat. Aber das Gefühl des Triumphes wollte ich mir nicht erlauben."

Einen Monat zuvor hatte Honeckers Anwalt bei der evangelischen Kirche um Asyl für seinen Mandanten gebeten, der Bischof leitete die Anfrage an Holmer weiter. Zum 1. Februar sollte die gesamte Wandlitzer Siedlung für ranghohe SED-Funktionäre geschlossen werden. Der Anwalt sagte, dass Honecker inmitten von Christen sicher vor dem Volkszorn sei. "Und warum gerade wir?", hatte Holmer die Kirchenleitung gefragt. "Wie kann dieser Mann nur darum bitten, zur Kirche zu kommen?" Doch Holmer ringt mit sich: Heißt es nicht im Vaterunser: "...wie auch wir vergeben unsern Schuldigern"? Er ist bereit, Honecker zu vergeben. Er kann nicht anders. "Friede kann nur da sein, wo Vergebung ist", sagt er.

Ein paar Wochen später sitzen Erich und Margot Honecker im Esszimmer der Holmers. Es ist der erste gemeinsame Abend. Nicht mal vier Monate zuvor hat Honecker seine DDR und sich selbst zum 40. Jahrestag der Republik mit Panzern, Jubelchören und Krimsekt feiern lassen. Jetzt guckt der gestürzte Machthaber in einem Pfarrhaus auf Bibelsprüche, die an der Wand hängen. Es gibt Brot, Butter und Käse. Vor dem Essen betet der Pastor. Die Holmers falten die Hände, die Honeckers legen ihre auf den Tisch und lassen es über sich ergehen. Man redet über Alltägliches: die Gesundheit, die Kinder, nicht über Politik. Nach dem Essen gehen die Honeckers auf ihre Zimmer.

Oben, im ersten Stock des Pfarrhauses, haben Holmers Söhne Traugott und Cornelius ihre Zimmer für die Honeckers geräumt. In einem schläft Erich, im anderen Margot - getrennt, weil er nachts häufiger aufsteht und sie nicht stören will. Es gibt ein Waschbecken, eine Kochplatte. Das Klo und die Dusche teilen sich die Honeckers mit Holmers Söhnen. Die Jungs wohnen Zimmer an Zimmer mit den Menschen, die ihnen das Abitur verboten haben.

Vor dem Haus geht es nicht so friedlich zu. Demonstranten grölen: "Honni nach Bautzen!" Eines Tages steht ein Mann mit einem Strick vor dem Gartentor und schreit: "Jetzt hängen wir das Schwein auf!" Holmer bekommt 3000 Briefe, auch Morddrohungen. Doch ins Pfarrhaus wagt sich kein Demonstrant. Und so kann sich in der seltsamen WG drinnen so etwas wie Alltag entwickeln.

Die Holmers wollen kein Geld von den Honeckers. Doch die Honeckers bestehen auf der in der DDR üblichen Miete: 35 Ost-Mark im Monat für zwei Zimmer. Die ersten Tage teilen sie alle Mahlzeiten, dann kocht Margot selbst. Erich Honecker braucht Krankenkost. Die Holmers sehen ihre Gäste, wenn sie ihnen Post aufs Zimmer bringen oder sie zum Telefon rufen. Margot Honecker telefoniert häufig: mit ihrer Tochter Sonja, mit ehemaligen Bediensteten, die jetzt die Einkäufe erledigen.

Sie wischt sogar die Treppe. Vielleicht aus Schuldgefühl. Wenn Holmer bei Honecker klopft, steht der immer auf und gibt seinem Gastvater die Hand. Er verlässt sein Zimmer fast nie, sitzt vor dem Fernseher. So flimmert allmählich auch zu Honecker durch, dass seine Republik sich selbst auflöst. "Er hat sich beherrscht", sagt Holmer. "Ich habe ihn nie in Tränen gesehen." Als die CDU im März die erste freie Volkskammerwahl gewinnt, gratuliert der Kommunist dem CDU-Mitglied Holmer. Nur aus Margot Honecker bricht manchmal Bitterkeit heraus. "Dass sich alle unsere Freunde zurückgezogen haben, ist hart", erzählt sie Holmers Frau.

Nachmittags - wenn die Demonstranten weg sind - holt Uwe Holmer die Honeckers zum Spaziergang ab. Über Politik reden will der gestürzte Machthaber nicht. Holmer probiert es trotzdem. Auf seine Weise erklärt er dem Atheisten die Wiedervereinigung nach 40 Jahren der Trennung: "Diese Zeitspanne ist in Gottes Heilsgeschichte eine fest umrissene Periode der Demütigung, der Läuterung und der Besinnung. Offenbar hat Gott unserem Volk dieses verordnet wegen all der Verbrechen im Dritten Reich." Honecker reagiert kühl: "Nun gut, wenn Sie das so sehen."

Als Holmer über Gorbatschow schwärmt, weil der "endlich mal mit dem Selbstbetrug Schluss gemacht" hat, erntet er eisiges Schweigen.

Reue, sagt Holmer, hätten die Honeckers nie gezeigt. Der Pastor vergibt ihnen trotzdem. "Gott hat mir vergeben. Also kann ich auch Honecker vergeben." Auch wenn es nicht zur Versöhnung gekommen ist. "Er hätte sagen müssen, dass er den falschen Glauben hatte und mich um Verzeihung bitten müssen. Und wir wären Freunde geworden." Einem Mann, der wegen seiner politischen Überzeugung im berüchtigten Gefängnis Bautzen saß, hat Holmer die Sache mit der Vergebung mal so erklärt: "Honecker hat nichts davon, wenn Sie ihm vergeben. Aber Sie entgiften sich dadurch selbst. Wenn Sie Honecker nicht vergeben, frisst die Bitterkeit Ihres Herzens Sie auf."

Die Holmers konfrontieren die Honeckers nicht. Wenn, dann nur indirekt. Einmal, als sich Holmer in einem offenen Brief an die Öffentlichkeit wendet und erklärt, warum er die Honeckers aufnimmt. "Unsere Familie hat diesen Schritt nicht getan aus Sympathie mit dem alten Regierungssystem", schreibt Holmer und berichtet, wie der Staat seine Familie diskriminiert hat. Holmer zeigt den Brief auch den Honeckers. Margot reagiert verlegen: "Das haben Sie gut formuliert." Mehr kommt nicht. Später sagt sie zu Holmers Frau: "Das mit Ihren Kindern habe ich gar nicht gewusst." Reue ist etwas anderes. "Über Vergebung haben wir nicht geredet", sagt Holmer.

Der Frühling kommt und mit ihm der Abschied, Honecker wird ins sowjetische Lazarett in Beelitz verlegt. Am letzten Tag, es ist der 3. April, trinken die Holmers noch einmal Kaffee mit den Honeckers. "Wir beten für Sie", sagt Holmer. Die Gäste bedanken sich höflich. Dann umarmen sich die Ehepaare. Warum auch nicht, sagt Holmer. "Es war ein persönliches Verhältnis entstanden." Ein letztes Wiedersehen gibt es, als Honecker Monate später in die Untersuchungshaft in Berlin-Moabit gebracht wird. Die Holmers besuchen ihn, sie können nicht anders. Honecker freut sich. Und dann sagt er etwas Seltsames, ja Biblisches: "Und dann kommt ja wohl auch bald die Zeit, wo ich diese Erde verlassen muss." Angesichts des Todes gibt es wohl keinen absoluten Atheisten, sagt Holmer. Später schreibt er Honecker: "Ich möchte Ihnen bezeugen, dass es danach weitergeht. Und es kann im Frieden mit Gott weitergehen durch die Vergebung Jesu." Eine Antwort bekommt er nicht.

Holmer hat Lobetal längst verlassen, in Serrahn eine Suchtklinik aufgebaut. Seine Frau ist gestorben, Holmer hat noch einmal geheiratet. Mittlerweile hat er 47 Enkel. Aus Chile bekommt er regelmäßig Post: Margot Honecker wünscht ein gutes neues Jahr.

Haben ihn die Tage mit den Honeckers verändert? Nein, sagt Holmer. "Die Wiedervereinigung war kein Umbruch für mich und meine Überzeugungen." Vieles sei in den 20 Jahren seit jenem 30. Januar 1990 besser geworden, die Luft sauberer, die Häuser schöner. "Innerlich aber sind wir arm geworden. Ein Volk, das keine Gebote mehr kennt, in dem wird es kalt und arm", sagt Holmer. Deswegen kämpft er weiter: für Süchtige, für Verfolgte, für Vergebung.

Er sagt, er kann nicht anders.