Verfassungsgericht stoppt Ratifizierung des Lissabon-Vertrags. Das Urteil stellt klar: Bundesregierung muss nachbessern - und den “europäischen Bundesstaat“ gibt es noch nicht.

Hamburg/Karlsruhe. Die gute Nachricht zuerst: Deutschland wird sich wohl nicht in eine Reihe mit den Lissabon-Zauderern Irland, Polen und Tschechien stellen. Sondern das Vertragswerk vom Dezember 2007 - Ersatz für die gescheiterte Verfassung der Europäischen Union - zügig ratifizieren.

Allerdings nicht ganz so zügig, wie sich das manche in der Bundesregierung gedacht hatten. Das gestrige Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe verhindert zunächst, dass Bundespräsident Horst Köhler seine Unterschrift unter die Urkunde setzen darf. Bundestag und Bundesrat hatten das Vertragswerk bereits ratifiziert, der Bundespräsident hatte keine inhaltlichen Einwände angemeldet. Doch erst wenn die Beteiligungsrechte von Bundestag und Bundesrat an EU-Entscheidungen qua Begleitgesetz gestärkt wurde, kann Köhler zum Füller greifen. Und dieses Begleitgesetz weist nach Auffassung der Karlsruher Richter erhebliche Defizite auf. Das Urteil des Zweiten Senats gilt schon jetzt als eines der bedeutendsten in der 58-jährigen Geschichte dieses Gerichtshofs. Damit verlangt das Gericht eine deutliche Stärkung des Demokratieprinzips, die es durch die Ausweitung von EU-Zuständigkeiten verletzt sieht. Das deutsche Parlament, der Bundestag, die Ländervertretung und der Bundesrat sollen an wichtigen Entscheidungen zwingend beteiligt werden. Der europäische Einigungsprozess, so argumentierten die Richter, dürfte nicht zur "Aushöhlung des demokratischen Herrschaftssystems in Deutschland führen". Die Kläger hatten unter anderem den Verlust parlamentarischer Kontrolle bei sozialstaatlichen und militärpolitischen Entscheidungen moniert. Dahinter stand die konkrete Befürchtung vor allem der Linksfraktion im Bundestag, dass über europäische Kampfeinsätze nicht mehr vom Parlament entschieden werden könnte. Das Gericht verwies ferner auf die sensiblen Felder Religion, Steuern, Strafrecht und Familienrecht.

Andere, wie der CSU-Politiker Peter Gauweiler, sahen ganz einfach die nationale Souveränität bedroht. Die Hoheitsrechte der Bundesrepublik Deutschland würden sonst in "unüberschaubarer Weise" auf die EU übertragen, kritisierte der streitbare Christsoziale. Nun gibt es bei der EU die "Brückenklausel", die für Beschlüsse des Europäischen Rates statt der Einstimmigkeit auch die Einführung eines einfachen Mehrheitsprinzips vorsieht. Der Zweite Senat in Karlsruhe ist jedoch der Auffassung, dass die Bundesregierung einer derartig folgenreichen Regelung nur auf der Grundlage eines Gesetzes zustimmen dürfe.

Der nun gebremste Lissabon-Vertrag wird völkerrechtlich erst wirksam, wenn die Ratifizierungsurkunden aller 27 EU-Mitgliedstaaten in Rom hinterlegt worden sind. Und die deutsche Ratifizierung kann erst nach der Verabschiedung des neu gefassten Begleitgesetzes erfolgen. Am 26. August soll der Bundestag zu diesem Zweck zu einer Sondersitzung zusammenkommen, am 8. September soll die Schlussabstimmung stattfinden.

Grundsätzlich hat das oberste deutsche Gericht aber keine Bedenken gegen den Lissabon-Vertrag. Der Vorsitzende des Zweiten Senats, Andreas Vosskuhle, stellte klar, dass das Grundgesetz die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen wie die EU durchaus erlaubt. Nicht aber den Beitritt zu einem "europäischen Bundesstaat" - denn dazu sei eine "Verfassungs-Neuschöpfung" vonnöten. 'Vertrauen ist gut, Kontrolle besser' ist offenbar das Motto der Verfassungsrichter. Denn Karlsruhe behält sich vor, eine Kontrollfunktion bei der weiteren europäischen Integration auszuüben.