Nach ihrem Scheitern an vier eigenen Genossen rief sie sofort bei Parteichef Franz Müntefering an. Aber auch der konnte ihr nicht mehr helfen.

Berlin. Zuletzt wusste man nicht mehr, ob man Andrea Ypsilanti für ihre Sturheit bewundern oder sie ganz einfach für halsstarrig halten sollte. Zum Beispiel, wenn sie vor laufenden Kameras von "ausgeräumten" Irritationen in ihrer Partei redete. Oder wenn sie verkündete, die Fraktion habe sie "darin bestärkt", dass der Koalitionsvertrag "gut ausgehandelt" sei. Und dazu unangenehm eisern lächelte.

Im Nachhinein hat sich ausgerechnet Ypsilantis großer Widersacher Roland Koch als Prophet erwiesen, der im Sommer voraussagte, "nichts und niemand" werde die SPD-Frau davon abhalten, sich im Hessischen Landtag zur Wahl zu stellen: "Weder der Rat ihrer Berliner Parteifreunde, die Angst haben, dadurch die Bundestagswahl jetzt schon zu verlieren, noch die Warnungen vor einem möglichen Scheitern." Koch hat - fast - recht behalten. Wie sich gestern herausstellte, ist Andrea Ypsilanti eine Kamikazefahrerin gewesen.

Um kurz nach zehn war die politische Karriere der 51 Jahre alten Soziologin beendet. Als das Telefon klingelte und sich am anderen Ende Carmen Everts meldete. Mit der Mitteilung, vier Mitglieder der SPD-Fraktion sähen sich aus Gewissensgründen nicht imstande, ihr, Andrea Ypsilanti, am Dienstagmittag ihre Stimme zu geben. Als Everts nachmittags von Journalisten gefragt wurde, wie Andrea Ypsilanti reagiert habe, antwortete die promovierte Politologin knapp: "Das können Sie sich sicher vorstellen, aber das fragen Sie sie besser selber." Wie man inzwischen weiß, hat Andrea Ypsilanti anschließend sofort mit Franz Müntefering telefoniert. Der ihr nicht mehr helfen konnte, weil ihr nicht mehr zu helfen war.

Von Münteferings Vorgänger Kurt Beck, dessen schmählichen Abgang Ypsilanti mitverantwortet, weil sie ihn vorführte, indem sie seine Autorität untergrub, stammt der Satz: "Es ist klar, dass die hessische SPD nicht mit dem gleichen Kopf gegen die gleiche Wand rennen wird." Beck sprach ihn gequält aus, nachdem Andrea Ypsilanti im März mit dem ersten Versuch gescheitert war, eine von der Linken tolerierte Minderheitsregierung in Wiesbaden zu bilden, nachdem ihr die SPD-Abgeordnete Dagmar Metzger die Unterstützung verweigert hatte.

Andrea Ypsilanti hat auf Becks Mahnung damals nichts gegeben, sondern ihre Partei acht Monate später dazu genötigt, genau das zu tun: mit demselben Kopf noch einmal gegen dieselbe Wand anzurennen.

Und das Ergebnis war noch schmerzhafter als beim ersten Mal, denn zu Dagmar Metzger haben sich gestern neben Carmen Everts auch noch Silke Tesch und Jürgen Walter gesellt. Alle drei haben erklärt, wie sehr sie es rückblickend bedauern, damals nicht so mutig wie Dagmar Metzger gewesen zu sein. Jürgen Walter hat gesagt: "Ich bin froh, dass ich hier oben nicht alleine sitze", und das konnte man ihm auch ansehen. Carmen Everts hat von "Druck" in der Fraktion gesprochen, Silke Tesch von "Wut und Frust": Kritik sei an Andrea Ypsilanti einfach "abgeprallt".

Wie man gestern hörte, hat Andrea Ypsilanti vor dem heiklen Unternehmen - immerhin hätte über Sieg oder Niederlage ohnehin nur eine einzige Stimme entschieden - keineswegs so intensiv mit ihren eigenen Fraktionskollegen gesprochen, wie sie das immer behauptet hat. Silke Tesch kann sich jedenfalls erinnern, zuletzt "vor einigen Wochen" mit Ypsilanti geredet zu haben. Und: "Sie hat mich nicht gefragt, ob ich sie wähle." Auch Carmen Everts sagt, Ypsilanti habe das persönliche Gespräch mit ihr nicht gesucht.

Wie erklärt man das? Mit Überheblichkeit? Mit einer völligen Fehleinschätzung der Lage? Mit einem "Autismus", von dem in den zurückliegenden Wochen zunehmend die Rede war?

Ganz sicher hat sich Andrea Ypsilanti am Ende nur noch mit Leuten umgeben, die keine unangenehmen Wahrheiten zur Kenntnis nehmen wollten. Die sich bereits auf einem Ministerstuhl sitzen sahen wie der Parteilinke Hermann Scheer. Die lässig darüber hinweggingen, als Jürgen Walter am 24. Oktober erklärte, in Ypsilantis Kabinett wolle er nicht sitzen, weil er den Zuschnitt der Ressorts für unverantwortlich halte. Walter habe ihr anschließend versichert, dass er sie trotzdem wählen werde, hat Andrea Ypsilanti dazu nonchalant gemeint. Hatte er das? Und gab es nicht einen zweiten Schuss, den Ypsilanti hätte hören müssen, als Walter dem mit den Grünen ausgehandelten Koalitionsvertrag am vergangenen Sonnabend seine Zustimmung versagte?

Als Andrea Ypsilanti gestern Abend um kurz nach halb sieben in Wiesbaden endlich vor die Kameras trat, wirkte sie verständlicherweise aufgeregt, aber auch sehr aufgebracht. Es habe, hat sie da gesagt, vor dem Anruf von Carmen Everts "in den letzten Tagen, in den letzten Wochen, in den letzten Stunden" keinen Hinweis auf die Entscheidung der vier Fraktionskollegen gegeben.

Kann man wirklich so lange auf dünnem Eis unterwegs sein und jedes Knacken überhören?

Andrea Ypsilanti, die aus bescheidenen Verhältnissen stammt - ihr Vater hat im Rüsselsheimer Opel-Werk gearbeitet -, wollte unbedingt nach oben. Sie wollte erklärtermaßen "Macht". Das ist nicht verwerflich. Aber Andrea Ypsilanti wollte mit dem Kopf durch die Wand. Ohne Rücksicht auf Verluste. Diese Verluste hat jetzt die hessische SPD zu tragen.