“Der Mann war gut“, hat selbst sein Gegenspieler Klaus Kinkel einst eingeräumt. Doch bis zuletzt blieb Wolf auch Kommunist und bereute nicht sein Handeln für die Diktatur.

Hamburg. Im Juli 1978 reist ein Mann namens "Dr. Kurt Werner" mit Diplomatenpass von der DDR über Helsinki nach Stockholm. Er ist auffallend elegant gekleidet und trägt eine große Sonnenbrille. In der schwedischen Hauptstadt heftet sich die Sicherheitspolizei SÄPO an seine Fersen. Als "Dr. Werner" in einem Stockholmer Vorort ein Mehrfamilienhaus ansteuert, dessen Mieterin die Botschaft der DDR ist, lauert auf der anderen Straßenseite bereits ein SÄPO-Mann mit der Kamera. Was er mit dem Teleobjektiv festhält, erweist sich wenig später als Sensation: "Dr. Kurt Werner" ist Markus Wolf, seit 1953 Spionagechef der DDR. Er galt bis dahin als "Mann ohne Gesicht", denn das bis dahin jüngste Foto von ihm, über das westliche Geheimdienste verfügen, war nahezu 25 Jahre alt.

Dass Wolf aus westlicher Geheimdienst-Perspektive (wieder) ein Gesicht bekommen hatte, hat ihm seine Arbeit nicht gerade erleichtert - zumal im März des darauffolgenden Jahres der "Spiegel" das Stockholmer Foto auf den Titel brachte. Sein Bewegungsspielraum wurde enger, wie er später selbst einmal einräumte. Gleichwohl blieb er eine der geheimnisumwobensten und zugleich schillerndsten Figuren im Kalten Krieg. Gestern ist er mit 83 Jahren gestorben - am 17. Jahrestag des Mauerfalls . . .

Obwohl er jahrzehntelang in führender Position einer verbrecherischen Diktatur gedient hatte, genoss Wolf noch zu aktiven Zeiten selbst bei Gegnern wie Klaus Kinkel, 1979 bis 1982 Chef des Bundesnachrichtendienstes und späterer Außenminister, "hohes Ansehen: Der Mann war gut". Andere bedauerten, dass Wolf dem falschen Deutschland gedient habe.

Seit Anfang der 50er-Jahre hatte Markus Wolf seine Agenten mit dem Auftrag in den Westen geschleust, irgendwo eine bürgerliche Tätigkeit aufzunehmen und zu schweigen. "Schläfer" nannte man das im Agentenjargon. Sie sollten auf bürgerlichem Wege in einflussreiche Stellungen gelangen, ganz gleich ob in der Wirtschaft, bei Gewerkschaften, Studentenverbänden, kirchlichen Organisationen, Parteien oder im öffentlichen Dienst. Erst wenn sie dieses Ziel erreicht hatten, wurden sie von ihrem Chef "geweckt". Bis zu 10 000 Auslandsspione soll er so geführt haben; Wolf behauptete später, es seien weniger als 3000 gewesen.

Als Meisterstück seiner Strategie ging die Platzierung des Agenten Günter Guillaume im Bonner Bundeskanzleramt an der Seite von Willy Brandt in die Nachkriegsgeschichte ein. Nach Guillaumes Enttarnung 1974 musste der innenpolitisch bereits seit längerem angeschlagene Brandt zurücktreten. Auch der Fall Klaus Kuron gilt als Spitzenleistung aus Sicht der zweiten deutschen Diktatur: Kuron war im Bundesamt für Verfassungsschutz zuständig für Geheimdienstoperationen gegen die DDR und gleichzeitig Agent der DDR.

Die Ostberliner Führung zeigte sich stets dankbar gegenüber Wolf: Sie überhäufte ihn nicht nur mit den höchsten Orden, sie erlaubte ihm auch, seine Zigaretten Marke "Navy Cut" und seine eleganten Anzüge aus London zu beziehen. Für die wenigen, die ihn kannten, entsprach er keineswegs dem Klischeebild eines Dunkelmannes, sondern vielmehr dem eines Topmanagers in einem westlichen Industriekonzern. Die Dossiers westlicher Abwehr-Organisationen registrierten über ihren östlichen Gegenspieler: Wolf verfügt über ein hervorragendes Gedächtnis, ist ungewöhnlich intelligent, verbindet seinen scharfen Verstand mit Liebenswürdigkeit und Kameradschaftlichkeit, verfällt nie in Befehlston. Er wird niemals laut, und sein Auftreten wird von lässiger Weltläufigkeit bestimmt.

Jedenfalls war die Diskrepanz zwischen Wolf und seinem Chef, dem eher proletarisch-spießigen Staatssicherheitsminister Erich Mielke beträchtlich.

Immerhin stammte Wolf aus einem großbürgerlichen Hause. Geboren wurde Markus Johannes "Mischa" am 19. Januar 1923 im württembergischen Hechingen. Sein Vater war der jüdische Dramatiker und Arzt Friedrich Wolf, Mutter war dessen zweite Frau Else Dreibholz. Wolfs Bruder Konrad machte sich später als Filmregisseur bei der DEFA einen Namen.

Eine Ironie der Geschichte: In Wolfs Heimat Hechingen verbrachte - wenngleich Jahre später - auch Klaus Kinkel seine Kindheit und Jugend. Und auch dessen Vater war dort Arzt, führte seine internistische Praxis nur einen Steinwurf von jener des Friedrich Wolf entfernt. Dass die beiden Söhne sich später einmal als Spionagechefs der beiden deutschen Staaten gegenüberstehen sollten, hätten sich wohl nicht einmal die einfallsreichsten Thriller-Autoren ausgedacht.

Wolf wuchs zunächst in Stuttgart auf. Da der Vater als Kommunist mit Verfolgung in Deutschland rechnen musste, emigrierte die Familie über Österreich, die Schweiz und Frankreich 1934 in die Sowjetunion. In Moskau erhielt Wolf nach dem Schulbesuch 1942/43 eine politische Ausbildung an der Kominternschule in Kuschnarenkowo im baschkirischen Ural-Vorland, wo auch Männer wie Walter Ulbricht und Wolfgang Leonhard geschult wurden. Zugleich studierte er an der Moskauer Hochschule für Flugzeugbau. 1942 trat er der KPD bei.

Im Mai 1945 kehrte Wolf mit den ersten Gruppen Moskauer Exilkommunisten nach Deutschland zurück, wurde Mitarbeiter des (Ost-)Berliner Rundfunks und Berichterstatter für den Hauptkriegsverbrecherprozess in Nürnberg. Im Dezember 1952 begann dann seine Karriere als Chef-Agent der DDR, die er 1986 auf eigenen Wunsch beendete, um sich der Schriftstellerei zu widmen.

Sein erstes Buch mit dem Titel "Troika" erzählt von Freundschaft und Erfahrungen dreier Emigrantenfamilien, von denen eine die Familie Wolf ist. Es hätte der Stoff für einen Film seines Bruders sein sollen, der aber vor der Verwirklichung des Vorhabens starb. Das Buch überraschte allgemein durch eine kritische Offenheit.

Noch vor dem 40. Jahrestag der DDR räumte Wolf Ende September 1989 in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" Mitverantwortung für die Zustände in der DDR ein. In der Wende-Zeit nahm er an Veranstaltungen der DDR-Opposition teil. Am 4. November 1989 trat Wolf auf dem Ostberliner Alexanderplatz vor die Demonstranten und bekannte sich zu seiner Vergangenheit. Ein bekennender Kommunist blieb er gleichwohl bis zuletzt. Sein Lebensweg "hätte nicht widersprüchlicher sein können", meinte Lothar Bisky, der Vorsitzende der Linkspartei.PDS.

Da Wolf in der Bundesrepublik per Haftbefehl gesucht wurde, flüchtete er kurz vor der deutschen Wiedervereinigung nach Moskau, kehrte aber schon 1991 wieder zurück. Ein Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 6. Dezember 1993, das auf sechs Jahre Haft wegen Landesverrats lautete, wurde nie vollstreckt und im Mai 1995 aufgrund einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aufgehoben. Ende Mai 1997 führte dann eine Anklage wegen geheimdienstlicher Nebendelikte - so die Beteiligung an der Verschleppung eines fahnenflüchtigen MfS-Offiziers - zu einer dreijährigen Bewährungsstrafe.

Die Sache mit dem Foto in Stockholm hat ihn im Nachhinein wohl eher amüsiert denn geärgert. Auf die Frage in einem "Playboy"-Interview, ob er - der "Mann ohne Gesicht" - Angst um sein Leben gehabt und sich deshalb so lange versteckt habe, antwortete Wolf 1995: "Ich habe mich nie versteckt. Auch diese Behauptung gehört zur Legende. Dass von mir keine Fotos existierten, hatte mehr mit der Unfähigkeit westlicher Journalisten zu tun. Ich saß bei fast jeder Maiparade mit in der ersten Reihe, und hätte ein westlicher Journalist mal einen DDR-Kollegen gefragt, wer Mischa Wolf ist, dann hätte es auch schon früher Fotos von mir gegeben."