Sie galt als meistgesuchte Verbrecherin. Europaweit jagte die Polizei nach der “Frau ohne Gesicht“. Jetzt stellt sich heraus: Schon 2008 gab es Zweifel, dass die Ermittler auf der richtigen Fährte sind.

"Das hätte natürlich nicht passieren dürfen!" Diesen profanen Satz, den er nicht als Vorwurf, sondern wohl vielmehr als Entschuldigung verstanden wissen wollte, sagte gestern der baden-württembergische Justizminister Ulrich Goll (FDP). Es scheint, als wolle er mit diesem Satz einen bewusst lässigen Schlussstrich ziehen - unter das wohl rätselhafteste Kapitel der jüngeren deutschen Kriminalgeschichte, der Suche nach dem "Phantom von Heilbronn". Doch so einfach ist es wohl nicht: Auch wenn sich das Phantom tatsächlich als profanes Hirngespinst entpuppt, wenn die Spuren zur meistgesuchten Frau Europas lediglich an das Packband eines Fachhandels für Medizinalbedarf führen, bleiben jede Menge Fragen zurück. Die nach einem eventuellen Tunnelblick bei Heerscharen von Kriminalisten etwa und die nach der Verlässlichkeit der als Wunderwaffe gegen das Verbrechen gepriesenen DNA-Analyse. Denn es sieht so aus, als stammten die mehr als 40 Spuren des Phantoms, die Ermittler an verschiedensten Tatorten gefunden haben, von den Wattestäbchen, die sie selbst dort hintrugen. Sollte sich dieser äußerst konkrete Verdacht bewahrheiten, ist das schlechterdings ein Desaster. Für die Ermittler, die Behörden und die als Wunderwaffe im Kampf gegen das Verbrechen gepriesene DNA-Analyse.

Sie galt als Phantom, zu dem es nicht einmal ein Phantombild gab. Eine Transsexuelle, ein Mannweib, eine Frau aus dem Milieu der Sinti und Roma, eine Profikillerin und vieles andere mehr. Jedenfalls aber als eine Frau, die seit 15 Jahren ihre Zeit damit verbringt, landauf, landab Straftaten zu begehen. Die Bandbreite ihrer Delikte schien so groß wie noch nie bei einem Serientäter. Die Frau schien unfassbar. Jetzt weiß man vermutlich auch warum: Es gibt sie gar nicht. Und wenn doch, dann nur in den Aktenbergen der Ermittler, die sich offenbar über Jahre einem falschen Verdacht hingaben und, vielleicht selbst beeindruckt von der Großartigkeit des Falles, wirklich nur einem Phantom nachjagten. Schließlich hatten sie die DNA-Analyse - von der Kriminalisten sagen, sie sei eine "inzwischen unverzichtbare, geniale kriminaltechnische Methode", deren Genauigkeit mit menschlicher Vorstellungskraft kaum zu bemessen sei. Dass die spezifische, immer wiederkehrende Erbgutinformation von ihren eigenen Werkzeugen stammen könnte, hielten sie nicht für möglich. Wie hätten sie es auch ahnen sollen: In der erst rund 20 Jahre währenden Geschichte der DNA-Analyse in der Kriminalistik waren bislang nie verschmutzte Wattestäbchen aufgetaucht. Und: Inzwischen gelten Laborergebnisse als so sicher, dass Gerichte Urteile auf DNA-Spuren stützen.

Die zentrale Tat der "uwP" - unbekannten weiblichen Person -, wie die Ermittler die Verdächtige nannten, geschah am 25. April 2007 in Heilbronn. Auf der Theresienwiese zwischen Neckarkanal und General-Wever-Turm hatten die Polizistin Michele Kiesewetter (22) und ihr Kollege Martin A. (24) ihren Streifenwagen zur Mittagspause geparkt. In Heilbronn sollten sie im Rahmen der Aktion "Sichere Stadt" Präsenz zeigen. Eine einfache Aufgabe. Gegen 13.30 Uhr parkten sie den Wagen im Schatten des dortigen Umspannwerkes. Vermutlich zwei Personen traten an den Wagen heran, schossen den Beamten aus unmittelbarer Nähe in die Köpfe. Sie raubten die Dienstwaffen, nahmen auch noch die Handschellen mit und flüchteten - ohne dass jemand sie gesehen hätte. Polizist Martin A. überlebte den Überfall. Am Auto sicherten Beamte der Mordkommission routinemäßig Spuren, die der Leiter der eilig eingerichteten Soko "Parkplatz", Kriminalrat Frank Huber, in die zentrale Gendatei des BKA einspeisen ließ. Nach sechs Wochen ergebnisloser Ermittlungen kam von dort die Nachricht, dass der gesicherte genetische Fingerabdruck von einer Frau stamme - einer Frau, die in den zurückliegenden 15 Jahren an bis dahin 26 Tatorten in Tirol, Linz, in Baden-Württemberg und im Rheinland und auch schon einmal in Heilbronn ihre Spuren hinterlassen hatte. Dies war der Zeitpunkt, an dem es hektisch wurde. Huber sagte, der Treffer habe sein Team "elektrisiert". Behörden- und länderübergreifend lief eine gewaltige Fahndungsmaschinerie an. Denn unter den DNA-Spuren waren auch zwei gewesen, die an anderen Mordschauplätzen gesichert worden waren. Man hatte es also, da waren sich nicht nur die ermittelnden Beamten sicher, mit einer Serienkillerin zu tun.

Dass Spuren des Erbguts zeitlich nicht zugeordnet werden können, dass also die betreffende Frau nicht zwingend zu den Tatzeitpunkten an den Tatorten gewesen sein muss, das war den Beamten bewusst. Trotzdem glaubte niemand daran, dass das ständige Auftauchen dieser speziellen DNA Zufall gewesen sein könnte. Sie sollten recht behalten. Lediglich der Schluss, den die Beteiligten aus den wundersamen Übereinstimmungen zogen, war nach allen jetzt vorliegenden Erkenntnissen ein falscher. Das "Phantom von Heilbronn" wuchs im Bewusstsein der Ermittler zu einem schier übermächtigen Mysterium. Wie sollten sie auch Einbrüche in Schulen, Autoaufbrüche, Laubenplünderungen, eine Körperverletzung in einem Anglerheim mit den weitaus schwerer wiegenden Fällen in Zusammenhang bringen können? Schließlich legte man dem Phantom nicht nur den Mord an Michele Kiesewetter zur Last, sondern auch noch den an der Rentnerin Lieselotte Schlenger 1993 in Idar-Oberstein. Und die Tat an dem damals 61-jährigen Freiburger Josef Walzenbach. Auch mit der Erschießung einer Familie durch Vietnamesen in Arbois (Frankreich) und dem Tod dreier georgischer Autohändler brachte man die Frau ohne Gesicht schließlich in ursächlichen Zusammenhang. Und zwischendurch klaute sie eben auch noch Gitarren, Schnaps, Zigaretten und Sonnenbrillen. Als wäre dies der Verwirrung nicht genug, schien das Phantom am Ende gar noch Verbindungen in somalische Terroristenkreise zu besitzen. Die DNA tauchte im Wagen eines V-Mannes des LKA Rheinland-Pfalz auf. Dieser V-Mann soll auf eben jenen Terroristen angesetzt und häufig mit ihm in jenem weißen Ford Escort unterwegs gewesen sein. Er war es auch, der die bereits erwähnten drei Georgier erschoss. Inzwischen sitzt er in Haft.

Denn es war ja nicht so, dass in all diesen Fällen keiner der Täter gefasst worden wäre. Nur: Alle, auch die skrupellosesten Ganoven, leugneten vehement, bei der jeweiligen Tat eine Frau dabeigehabt zu haben. Neben internationalen Profilern und Experten für Operative Fallanalyse wurden schließlich Kartenleser und Wahrsager mit dem Fall befasst. Sechs Sonderkommissionen mit Hunderten Beamten rotierten. Der Fall ging weltweit durch die Medien. Das vermeintliche Phantom warf unterdessen mit einem Stein das Fenster eines Hauses in Saarbrücken ein. Im Oktober 2008 begannen erste Zweifel an der Richtigkeit der Serientäter-Theorie aufzukeimen. In Saarbrücken wurde eine verbrannte Leiche entdeckt, ihre DNA mit der eines vermissten Asylbewerbers verglichen. Auf dem Papier tauchten Spuren des Phantoms auf. "Das konnte einfach nicht sein", sagt einer der Ermittler. Bei einem Vergleichstest war die Spur verschwunden. Die Wattestäbchen-Frage wurde zunächst leise diskutiert, später immer lauter. Noch im Dezember hatten die zuständigen Behörden Spekulationen um eventuell verunreinigte Utensilien strengstens zurückgewiesen. Inzwischen haben die Beteiligten ihre Meinung offenbar geändert. Während Baden-Württembergs Innenminister Heribert Rech (CDU) das Phantom-Rätsel noch nicht für gelöst hält, sagt sein Justizkollege Goll, die neuen Erkenntnisse hätten "eine hohe Plausibilität". Seinen Ermittlern will er indes keine Vorwürfe machen: "Die sehen es einem Wattestäbchen ja nicht an, dass da schon was dran ist." Im ganzen Land beginnen jetzt massenweise Überprüfungen der polizeilichen Spuren-Q-tips. Mitarbeiterinnen der Firmen, die in die Herstellung der medizinischen Wattestäbchen eingebunden sind, wurden und werden zu Speicheltests gebeten. Doch nun tauchen die nächsten, erneut nicht eben kleinen Probleme auf: Hautpartikel, Speichel oder Schweiß könnten schon beim Pflücken der Baumwolle auf das Material gelangt sein. Vielleicht auch bei der Verpackung, vielleicht beim Befestigen der Watte. Niemand weiß es.

Bei der Hamburger Firma, die die Kripo in Heilbronn beliefert heißt es: Wir sind Großhändler, wissen nicht, wo unsere Ware landet. Baden-Württembergs Landesregierung hat schon gestern angekündigt, die verantwortliche Firma verklagen zu wollen, wenn sich die Wattestäbchen-Theorie schlussendlich bewahrheitet. Die Ermittlungen hätten Millionen verschlungen, heißt es in Stuttgart. Immerhin: Die Rekordsumme von 300 000 Euro Belohnung können die Behörden sparen. Ein ausgesprochen schwacher Trost.