Tage des Donners in der Union: Abgeordnete beschweren sich über Merkels Umgang mit Röttgen. Die Kanzlerin geht weiter in die Offensive.

Berlin. Diese eine Minute und 39 Sekunden kann die CDU so schnell nicht vergessen. Der Rauswurf Norbert Röttgens , vollzogen am Mittwochvormittag und bekannt gegeben am selbigen Nachmittag in jener 1:39-Ansage der Kanzlerin, lässt der Partei weiter keine Ruhe. Nach sieben Jahren Kanzlerschaft hat die CDU ihre eigene Vorsitzende neu kennengelernt: nicht mehr zögernd, sondern zuschlagend. Nicht mehr aussitzend, sondern austeilend. Das sitzt. Und zwar tief.

Eine Partei geht nun erstaunt und teilweise entsetzt in ein Wochenende, an dem sie versuchen wird, nach den Ereignissen in Nordrhein-Westfalen und darauf folgend im Kanzleramt wieder Kraft zu schöpfen, nach vorn zu blicken, Optimismus auszustrahlen. Es wird schwer genug. Seit Monaten war bekannt, dass schon das Verhältnis Merkels zu FDP-Chef Philipp Rösler nur noch von Kälte geprägt ist. Zuletzt verweigerte wiederum CSU-Chef Horst Seehofer Kontakt zu Merkel aus Zorn über die unionsinterne Debatte um das längst beschlossene Betreuungsgeld. Jetzt hat Merkel selbst über ihre eigene Partei eine dicke Eisschicht gezogen. Von dem einen auf den anderen Tag soll ein wichtiger, über Jahre hochgelobter Minister nicht mehr die Voraussetzungen besitzen, sein Amt auszuführen? Gerade in Röttgens nordrhein-westfälischen Landesverband will man nicht zur Tagesordnung übergehen. Jetzt erst recht nicht.

Röttgen zum alleinigen Sündenbock für die Wahlpleite vom vergangenen Sonntag zu machen und ihn auch noch aus dem Ministeramt zu feuern regt CDU-Innenexperte Wolfgang Bosbach dermaßen auf, dass er eine Grundsatzdebatte fordert. "Es muss jetzt endlich nüchtern und gründlich über alle Ursachen für das Desaster gesprochen werden", sagte Bosbach der "Süddeutschen Zeitung". Schließlich habe die CDU allein in NRW 100 000 Wähler an die Nichtwähler verloren. Das Debakel habe mehrere Gründe, die Fehler Röttgens seien nicht alleine ausschlagend gewesen, sagte der Abgeordnete.

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Ein weiterer CDU-Mann aus NRW, der Bundestagsabgeordnete Uwe Schummer, nannte die "öffentliche Demütigung" Röttgens durch die Kanzlerin "mehr als ätzend". Die Wahlkämpfer in NRW hätten gerade noch Plakate mit dem Tenor geklebt: Röttgen ist der Beste. "Und nun werden wir alle von der Kanzlerin belehrt, dass er auch im Kabinett doch nicht mehr so wichtig ist."

Am späten Freitagvormittag sitzt der stellvertretende Regierungssprecher Georg Streiter in der Bundespressekonferenz und muss einige unangenehme Fragen erdulden. Wieso hat Merkel Röttgen entlassen? Streiter verweist auf Merkels Erklärung vom Mittwoch, benennt noch einmal das Stichwort der "Kontinuität" bei der Energiewende, erklärt noch, dass es sich bei der Entscheidung Merkels um einen "Prozess" gehandelt habe. Soweit so unklar. Die Fortsetzung der Debatte um die Konsequenzen nach der NRW-Niederlage ist programmiert. Röttgen selbst schweigt. Er lässt eine Sprecherin des Umweltministeriums, welches er offiziell nur noch bis Dienstag, 10 Uhr, leiten wird, lapidar erklären: "Herr Röttgen ist heute nicht im Ministerium. Er ist zu Hause." Am besagten Dienstag wird er nach Berlin kommen, um aus den Händen von Bundespräsident Joachim Gauck die Entlassungsurkunde zu erhalten. Danach muss er dabei zuschauen, wie sein Nachfolger Peter Altmaier ins Amt gehoben wird. Merkel hat ihr Kommen beim Präsidialamt angekündigt. Es dürfte noch einmal eiskalt werden im Schloss Bellevue.

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Danach aber will Merkel diese und andere Krisen, die die CDU und ihre Koalitionspartner beschäftigen, endlich ad acta legen. Ob es am selben Dienstag oder am folgenden Donnerstag zum Spitzentreffen der drei Parteichefs der Koalition kommt, ist noch ungewiss. Gewiss sei allerdings, so ist in Merkels Umfeld zu hören, dass die Kanzlerin stramm auf Kompromisskurs gehen will - sowohl beim Betreuungsgeld als auch beim Mindestlohn. Am Mittwoch will sie zudem mit den 16 Ministerpräsidenten endlich Fortschritte bei der Energiewende erzielen. Und ein Treffen mit der Opposition über eine parteiübergreifende Zustimmung zum umstrittenen Fiskalpakt für mehr Haushaltsdisziplin soll auch geplant sein. Im politischen Sprachgebrauch nennt man das "Offensive", wenn Regierungschefs trotz Zeitnot solch ein Entscheidungspensum vorlegen.

Dabei ist Merkels Terminkalender bereits übervoll. Erst Dienstag kehrt sie aus den USA vom G8-Gipfel in Camp David und vom Nato-Gipfel in Chicago zurück. Und schon am Mittwoch will sie bei einem informellen EU-Gipfel in Brüssel über Pläne für mehr Wachstum in den EU-Staaten beraten.

Das Augenmerk liegt in Berlin vorerst auf der Energiepolitik und der Frage, ob der alte parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion als neuer Umweltminister sogleich Akzente setzen kann. Er wird bei den Gesprächen mit den Länder-Regierungschefs dabei sein und in Windeseile sich ein Bild vom realen Zustand des Energiekonzepts der Bundesregierung machen müssen. Die CDU zerrt bereits an Altmaier. Der baden-württembergische Fraktionschef Peter Hauk verlangte, "dass wirtschaftliche Belange der Energiewende und die Bezahlbarkeit der Strompreise stärkere Berücksichtigung als unter Röttgen finden".

Und Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) bezeichnete Röttgens Aus als eine "Chance, das Thema Energiewende mit der Restrukturierung der Solarbranche zu verbinden und offensiv Lösungen dafür zu entwickeln", wie er der "Mitteldeutschen Zeitung" sagte. Noch härter als bei der Solarförderung wird nach wie vor in der Union der Streit ums Betreuungsgeld geführt. Je näher die Vorstellung des Gesetzentwurfs rückt, desto nervöser werden die Spitzen der Unionsfraktion. Ihr Job ist es, die vielen kritischen Abgeordneten einzufangen, um im Bundestag eine klare Zustimmung zu organisieren.

Nicht nur, um Familienministerin Kristina Schröder (CDU) unter Zeitdruck zu setzen, sondern auch die eigenen Parlamentarier, hatte Fraktionschef Volker Kauder Mitte der Woche verkündet: "Das Betreuungsgeld wird noch vor der Sommerpause in zweiter und dritter Lesung vom Bundestag verabschiedet." Bisher hatte es geheißen, dass bis dahin erst der Gesetzentwurf fertig sein soll. Kauders Vorstoß löste Kritik aus. Der Wandsbeker CDU-Abgeordnete Jürgen Klimke, einer der schärfsten internen Kritiker des Betreuungsgeldes, sagte dem Abendblatt:

"Die neue Ankündigung von unserem Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder, noch vor der parlamentarischen Sommerpause ein Gesetz zum Betreuungsgeld in seiner jetzigen Form zu verabschieden, halte ich für ambitioniert." Weder die neuen Vorschläge der Ministerin Schröder noch die starre Haltung der CSU gingen auf die inhaltliche Kritik vieler CDU-Fraktionsmitglieder ein, kritisierte Klimke. Besonders die "Gruppe der Frauen" stemme sich weiter gegen ein Betreuungsgeld in seiner jetzigen Form, sagte Klimke.

"Auch ich bleibe weiter kritisch, aber offen für sinnvolle politische Kompromisse. Ich will wissen, wie wir Fehlanreize einer Barauszahlung verhindern und die CSU zu einer alternativen Rentenanrechnung steht", sagte er. Die Kanzlerin habe ja recht, wenn sie den Kita-Ausbau zusätzlich fördern wolle, "nur können wir die veranschlagten zwei Milliarden Euro für das Betreuungsgeld dann auch gleich für den Ausbau nutzen", schlug der CDU-Politiker vor. Kindererziehung sei "doch die natürlichste Sache der Welt". Warum müsse denn nun der Staat eine schuldenfinanzierte monatliche Prämie dafür zahlen, fragte er. Merkel allerdings wird wohl kaum Veränderungen am Beschluss mehr zulassen. Als sie am Freitag gegen Mittag in Mannheim den Katholikentag besucht, wird sie mit dem Thema gar nicht erst behelligt.