Persönliche Schicksale ordnet die Kanzlerin Pragmatismus und Machtinstinkt unter

Gehen Maß und Mitte verloren, droht das Scheitern. Auch zu viel Talent, Intelligenz im Überfluss und der Versuch, sich immer möglichst alle Optionen offenzuhalten, können ins Abseits führen. Der Weg vom Reservekanzler zum politischen Niemand ist dann ein kurzer. Norbert Röttgen kann nun ein Lied davon singen. Er hatte das Kanzleramt schon im Visier, wollte sich in Nordrhein-Westfalen mit dem mächtigsten Landesverband seiner Partei eine solide Machtbasis für die Zukunft sichern - und hatte bei seinem Antritt als Landesvorsitzender gelobt, auch als Spitzenkandidat in die nächste Landtagswahl zu ziehen.

Nur kam die dann viel schneller als gedacht. Röttgens Koordinatensystem geriet durcheinander, und er reihte - für ihn ungewöhnlich - Fehler an Fehler. Er wollte sich nicht ganz auf NRW einlassen - intellektuell vielleicht nachvollziehbar, nur die Herzen der Wähler gewinnt man so nicht. Dann seine fatale Aussage, dass leider ja nun die Wähler eine Wahl entscheiden - und nicht die Partei. Der entscheidende Fehltritt dürfte die Verknüpfung von Angela Merkels Euro-Politik mit seinem Wahlergebnis gewesen sein. Eine Niederlage mag die Kanzlerin vielleicht noch verzeihen. Dafür mit in Haftung genommen zu werden mit Sicherheit nicht. Dass die Kanzlerin keine Sentimentalitäten kennt, wenn es um ihren Job geht, hätte Röttgen wissen können.

Das Ende eines Hoffnungsträgers bedeutet für die CDU aber nicht das Ende aller Hoffnungen auf Machterhalt. Merkels Situation ist nicht mit der Gerhard Schröders 2005 zu vergleichen, der nach der SPD-Niederlage in NRW vorgezogene Neuwahlen ausrief. Weder ist das größte Bundesland diesmal für die CDU verloren gegangen, noch ist der Kurs der Kanzlerin in ihrer eigenen Partei noch in der Koalition so umstritten, wie es der Schröders damals war. Das Gezänk um das Betreuungsgeld oder die Datenvorratsspeicherung haben bei Weitem nicht die Sprengkraft der Hartz-Reformen.

Interessanter ist die Frage, worin Merkels Kurs eigentlich besteht und wozu der Machterhalt noch dienen soll. Röttgen galt als Brückenbauer hin zu möglichen schwarz-grünen Konstellationen. Die Option hat er trotz der Volten seiner Chefin erst hin zur Laufzeitverlängerung und dann zurück zur Energiewende glaubhaft aufrechterhalten können. Mit dem Ende des glücklosen Ex-Ministers ist sie auf ein Minimum geschrumpft. Die Konservativen in der CDU sind ob Merkels werteneutralem Pragmatismus schon länger verunsichert. Sie empfinden auch den rüden Umgang mit Röttgen nicht deckungsgleich mit dem christlich-abendländischen Menschenbild, das bei feierlicheren Gelegenheiten als Kabinettsumbildungen so gern von der Partei mit dem C im Namen hochgehalten wird. Die Modernisierer in der Union dürften jetzt auch etwas ratlos sein, wohin denn die Reise für sie künftig gehen könnte - programmatisch und mit welchem Partner.

Den Mühen dieser Ebenen entflieht die Kanzlerin bereits heute wieder in die lichten Höhen internationaler Gipfel. Mit den G8 noch schnell die Welt retten, deren Freiheit dann mit der Nato verteidigen, in der EU die Griechen auf Kurs halten, sich mit Frankreich neu arrangieren. Aus dieser Perspektive schrumpfen heimische Personalien und Querelen schnell zusammen. Für die Regierungschefin und auch für das staunende Wahlpublikum. Abgestimmt wird regulär erst im Herbst kommenden Jahres wieder. Die Personalie Röttgen dürfte bis dahin in Vergessenheit geraten sein. Und der Kanzlerin ist es auch egal, ob die FDP wieder so weit auf die Beine kommt, dass sie wieder eine planbare Größe in der Koalitionsarithmetik darstellt. Sie kann auch Große Koalition. Und dem deutschen Wähler war das Gefühl von Sicherheit und Stabilität am Ende noch immer wichtiger als Parteiprogramme und gesellschaftliche Visionen. Und darauf zielt Merkels Kurs. Den hält sie eisern - gelegentlich ohne Rücksicht auf Verluste oder persönliche Schicksale.