Merkel bat ihren Umweltminister zurückzutreten. Er lehnte empört ab. In der CDU gibt es unterschiedliche Versionen des Geschehens.

Berlin. Auch was in der Politik auf offener Bühne geschieht, muss rekonstruiert werden. Gerade dann: Denn es geschieht nicht alle Tage, dass eine Kanzlerin ihren vielleicht wichtigsten Minister entlässt, eine Parteivorsitzende die Karriere ihres Stellvertreters beendet, die alles überstrahlende Politikerin der CDU den Politiker zerstört, der als die Zukunft der Partei galt.

Angela Merkel und Norbert Röttgen haben sehr unterschiedliche Versionen, was zwischen Sonntag, dem Tag seiner schlimmsten Niederlage im größten Bundesland, und Mittwoch, als sie ihn feuerte, geschah. Beide Politiker lassen ihre Version verbreiten - dafür haben sie Leute.

Aber zuerst die überprüfbaren Fakten: Am Sonntag telefonieren die beiden gegen 17 Uhr. In NRW sind die Wahllokale noch geöffnet, aber beide kennen das Ergebnis von Befragungen nach der Stimmabgabe und wissen: Die Niederlage ist dramatisch und historisch einmalig. Röttgen kündigt Merkel seinen Rücktritt vom Landesvorsitz an. Die nimmt es zur Kenntnis. Die beiden verabreden ein persönliches Gespräch Mitte der Woche. Röttgen versteht dies als Signal, er könne Umweltminister bleiben.

+++ Merkel hält Kurs +++

Am Montag fliegt Röttgen nach Berlin und nimmt am CDU-Präsidium im Konrad-Adenauer-Haus teil. Anschließend tagt auch der Vorstand. Röttgen übernimmt die Verantwortung für die Wahlniederlage. Die Kanzlerin schweigt wieder. Danach gehen Merkel und Röttgen gemeinsam zur Pressekonferenz. Und hier gehen die Schilderungen zum ersten Mal auseinander. Merkel habe ihm vorher einen Wink gegeben, es werde eng für ihn, sagt die eine Seite. Diesen Wink gab es nicht, sagt die andere. Auf der Pressekonferenz wirft sich Röttgen erneut in den Staub, spricht aber davon, sein Amt zumindest bis zum Ende der Legislaturperiode ausfüllen zu wollen. Merkel redet hingegen zwar von einer "Aufgabe", die "Kontinuität" verlange, aber nicht direkt von Röttgen.

Der fühlt sich dennoch sicher und jettet sofort zurück nach Düsseldorf. Dort tagt am Abend der Landesvorstand. Es geht um die Führung des größten Landesverbandes, also auch darum, an wem Merkel künftig auf Parteitagen nicht herumkommt. Röttgen lässt die Sitzung von seinem Generalsekretär leiten, der die Schuld für die Niederlage nicht nur in NRW sehen will. Merkels anwesender Generalsekretär Hermann Gröhe spricht hingegen während der gesamten Sitzung kein Wort.

Aber gleichzeitig spricht ein anderer, im Fernsehen. Und wie! CSU-Chef Horst Seehofer markiert im nachträglich freigegebenen Geplauder Röttgen als Hauptschuldigen an der Wahlniederlage. Er habe ihn doch gemeinsam mit der Kanzlerin bekniet, zu Beginn des Wahlkampfes zu erklären, notfalls auch als Oppositionsführer nach Düsseldorf zu wechseln. Röttgen habe dies aber als drohenden persönlichen Abstieg empfunden und abgelehnt. Röttgen kocht, als er den Fernsehauftritt sieht. Denn er erinnert sich ganz anders. Seehofer und Merkel hätten ihm damals eben nicht zu einer klaren Entscheidung geraten, sondern zu einem Trick: Er sollte erklären, in jedem Fall nach Düsseldorf zu wechseln, um dann - im Falle einer Niederlage - von Merkel daran gehindert zu werden. Als unabkömmlichen besten Mann wolle sie ihn nicht ziehen lassen, soll ihm die Kanzlerin angedeutet haben.

+++ Eine Herkulesaufgabe für Altmaier +++

Am Dienstagnachmittag geht Röttgen ins Kanzleramt. Merkel unterrichtet ihn jetzt, dass sie ihn nicht mehr als Umweltminister halten wolle. Merkel habe auf die mangelnde Durchsetzungsfähigkeit eines angeschlagenen Umweltministers verwiesen, sagen ihre Leute. Die Energiewende sei so nicht zu schaffen. Röttgen berichtet nach dem Besuch im Kanzleramt gegenüber Vertrauten allerdings ganz etwas anderes: Die Energiewende habe gar keine große Rolle gespielt. Merkel habe vielmehr die Befürchtung geäußert, die Niederlage in NRW könne, da die Debatte darüber nicht verebbt sei, nun auch ihre Position gefährden. Röttgen habe dagegen gehalten, sie begehe einen schweren Fehler, opfere sie ihn. Er binde die jungen und liberalen Wähler und stehe wie kein anderer für die neue moderne CDU.

Gesichert ist nun wieder: Es kam zu echtem Streit, und Röttgen lehnte es ab, um seine Entlassung zu bitten. Er habe sich ungerecht und menschlich unanständig behandelt gefühlt und dies Merkel auch so gesagt.

Schon am nächsten Morgen treffen die beiden erneut aufeinander - in der Kabinettssitzung. Röttgen sieht mitgenommen aus, sortiert aber Blätter in seiner Vorlagenmappe, als sei nichts geschehen. Auch Merkel lässt sich nichts anmerken und macht sogar Scherze über eine Kuriosität in der griechischen Verfassung. Doch nach der Sitzung ist Schluss mit lustig. Sie bittet Röttgen zu bleiben und fordert ihn noch einmal auf, um seinen Rücktritt zu bitten. Doch er lehnt wieder ab. Er will jetzt gefeuert werden. Denn sein Rausschmiss soll aller Welt zeigen, wie ungerecht er behandelt wird.

Das ist der Kern einer Strategie: Der Grundstein dafür wird in dem schroffen Abschied gelegt, den ihm Merkel um 16.30 Uhr schließlich bereitet. Er kann die neue Rolle des Norbert Röttgen begründen: die des Opfers. Für diese Rolle gibt es Vorbilder in der CDU: Friedrich Merz, Roland Koch, Horst Köhler. Tatsächlich zeichnet ihn Wolfgang Bosbach, auch ein Mann mit dem Selbstverständnis eines Merkel-Opfers, schon am gleichen Abend so in der Talkshow von Anne Will. Röttgen könnte das Opferlied freilich anders intonieren: Bisher hat Merkel die Alten und die Konservativen weggebissen, mit Röttgen nun zum ersten Mal einen, der für die Zukunft der Union stand.