Abschaltdatum für deutsche Meiler sorgt für Streit. Scholz fordert Aus für Brunsbüttel und Krümmel

Berlin. Der Tag der Entscheidungen begann am Morgen mit einer klaren Botschaft an die Kanzlerin. Direkt an der Stirnseite des Brandenburger Tores hatten Aktivisten der Umweltschutzorganisation Greenpeace in 26 Metern Höhe ein gelbes Transparent ausgerollt: "Jeder Tag Atomkraft ist einer zu viel", hieß es darauf.

Das Wahrzeichen Berlins ist nur wenige Hundert Meter vom Kanzleramt entfernt. Gestern kamen hier die Spitzen der schwarz-gelben Regierungskoalition zusammen, um eines der größten Projekte der laufenden Legislaturperiode zu beraten und in ersten Punkten zu entscheiden: Die Energiewende, die nur wenige Tage nach der Havarie des japanischen Atomkraftwerks Fukushima am 11. März eingeleitet wurde. Die Stoßrichtung ist dabei klar: Deutschland soll aussteigen aus der Kernenergie. Doch über wesentliche Details, das Wann und das Wie, wurde bis zuletzt gestritten. Den ganzen Sonntag über gab es Verhandlungen. Der für 18 Uhr angesetzte Koalitionsausschuss - das höchste schwarz-gelbe Entscheidungsgremium - wurde wegen anhaltenden Beratungsbedarfs auf 18.45 Uhr verschoben.

Spät am Abend - nachdem zwischenzeitlich auch die Spitzen von SPD und Grünen zu der Runde im Kanzleramt gestoßen waren - wurden erste Detailergebnisse bekannt. Demnach soll die Atomsteuer weiter erhoben werden. Zudem sollen ein bis zwei der derzeit abgeschalteten Meiler in einer Art Stand-by-Funktion gehalten werden. Diese stille Reserve soll angezapft werden, wenn im Winter nicht ausreichend Strom aus Wind- oder Sonnenkraft gewonnen werden kann. Die Spitzen von SPD und Grünen ließen einen Konsens mit der Regierung nach der Visite im Kanzleramt offen. "Es gibt ganz viele Fragen, die nicht klar sind", sagte SPD-Chef Sigmar Gabriel nach der Vorstellung des möglichen Ausstiegsszenarios durch die Koalitionsspitzen im Kanzleramt. Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin sagte: "Die Hintertüren sind noch nicht zu." SPD und Grüne pochten darauf, dass keine Revisionsklauseln eingebaut werden dürften.

Die von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) eingesetzte Ethikkommission will ihre Empfehlungen zwar erst am heutigen Montag offiziell vorstellen, jedoch sickerten schon nach der finalen Sitzung am Sonnabend erste Zahlen durch: So sei der Ausstieg aus der Atomenergie bis 2021 möglich, ohne dass es zu Engpässen bei der Stromversorgung komme. In der Koalitionsrunde wurde aber über eine Verlängerung der Frist um ein Jahr debattiert.

Schon vor dem Treffen am Abend hatte die Kanzlerin angekündigt, die Vorschläge der Ethikkommission sehr ernst nehmen zu wollen. Und auch CSU-Chef Horst Seehofer, der erst mit dem Jahr 2020 vorgeprescht war, sah 2021 nun als vernünftig an. Probleme gab es allerdings mit der FDP. Parteichef Philipp Rösler wiederholte gestern unmittelbar vor dem Treffen der Koalitionsspitze, dass sich die Liberalen strikt gegen ein Durchpeitschen neuer Regelungen stellen. Er warnte vor einem Bieterwettbewerb um das Datum des Atomausstiegs: "Der Weg bis dahin ist entscheidend", sagte er. Die FDP setzt beim AKW-Abschied auf einen zeitlichen Korridor, um bei Problemen nachsteuern zu können. Zudem hatte Rösler in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" dafür plädiert, "dass ein bis zwei Kraftwerke für eine gewisse Zeit im kalten Stand-by-Modus bleiben und nicht sofort rückgebaut werden".

SPD-Chef Sigmar Gabriel mahnte die Kanzlerin, den Forderungen seiner Partei nach einem festen Ausstiegsdatum nachzukommen. "Offenbar wird die von der Kanzlerin eingesetzte Ethikkommission ein möglichst schnelles und unumkehrbares Ende der Atomkraft fordern", sagte Gabriel dem Abendblatt. "Jetzt muss die Kanzlerin die Empfehlungen ihrer Experten in der Koalition durchsetzen." Merkel müsse sich entscheiden, forderte er. "Will sie nur einen billigen Burgfrieden in ihrer zerstrittenen Koalition, oder will sie einen breiten Energiekonsens?"

Auch Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) warnte Union und FDP, die Chance auf einen Konsens zu verspielen. Wenn der Bericht der Ethikkommission "ein klares Datum für den Atomausstieg und das Ende für die acht abgeschalteten Atomkraftwerke - unter ihnen Brunsbüttel und Krümmel - festschreibt, ist ein überparteilicher Konsens über den Atomausstieg möglich", sagte er dem Abendblatt. "In diesem Rahmen muss sich die Bundesregierung bewegen", forderte er. Merkel gab sich vor dem Treffen optimistisch: "Ich denke, wir sind auf einem guten Weg. Dennoch gibt es viele Fragen zu bedenken", sagte sie. Die Zeit drängt: Am Freitag will die Kanzlerin ihre Pläne mit den Ministerpräsidenten besprechen. Am 30. Juni soll sich der Bundestag mit dem Atomgesetz befassen.