Nach einer Verhandlungsnacht steht fest: Ab Sonntag sollen in der Ostukraine die Waffen schweigen. Selbst die Kanzlerin ist nur verhalten optimistisch

Minsk. Sie haben die ganze Nacht hindurch verhandelt. Am Ende steht ein bahnbrechender Kompromiss, der den Krieg in der Ostukraine beenden und die Beziehungen zwischen dem Westen und Moskau in Richtung Normalität zurückführen soll. Die großen Fragen sind nun: Ist der Kompromiss das Papier wert, auf dem er steht? Werden alle Seiten die Vereinbarung auf dieselbe Weise auslegen? Ist der ukrainische Präsident Petro Poroschenko in der Lage, die Zugeständnisse im eigenen Lager durchzusetzen? Wie lange wird der „Geist“ dieser Vereinbarung überleben?

„Wir leben weiterhin zwischen Bangen und Hoffnung“, sagte ein Brüsseler EU-Diplomat, nachdem erste Einzelheiten der Vereinbarung bekannt geworden waren. Auch die Bundeskanzlerin zeigte sich verhalten optimistisch, sie sprach von einer „ernsthaften Hoffnung“. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) erklärte: „Manchem wird das nicht reichen. Auch wir hätten uns mehr gewünscht.“

Der wichtigste Punkt der Vereinbarung lautet: Die schweren Kämpfe in der Ostukraine zwischen prorussischen Separatisten und dem ukrainischen Militär sollen in drei Tagen enden, der Abzug schwerer Waffen wird in zwei Tagen beginnen. Die kommenden 72 Stunden werden also entscheidend sein für den gesamten Friedensprozess. Dann wird sich zeigen, wie belastbar die Basis der Vereinbarung ist: Werden die Rebellen mitten in der Offensive und nach starken Geländegewinnen wirklich bereit sein aufzuhören? Es gibt auch ganz praktische Fragen: Welche Truppen ziehen sich an welchen Orten mit welcher Geschwindigkeit zurück? Das Misstrauen untereinander ist nach wie vor sehr hoch.

Sollte die Waffenruhe am Sonntag um 0 Uhr endlich eintreten, wäre das ein wichtiger Erfolg. Man hätteeine ernsthafte Eskalation des Konflikts verhindert. Poroschenko hatte angekündigt, das Kriegsrecht in der gesamten Ukraine zu verhängen, falls die Kämpfe unvermindert weitergehen sollten. Auf der anderen Seite hätten die USA, aber auch europäische Staaten wie Polen und Großbritannien, wohl – letztendlich – tödliche Defensivwaffen an die Ukraine geliefert. Mit unabsehbaren Folgen.

Die gute Nachricht hat allerdings einen bitteren Beigeschmack: In der Minsker Vereinbarung von September 2014 zwischen den prorussischen Separatisten und der Regierung in Kiew war auch schon ein Waffenstillstand vereinbart worden. Er wurde aber nur kurz eingehalten, dann immer mehr durchlöchert – bis er in neue Eskalation mündete. Die Angst, dass das wieder passiert, ist im Westen sehr groß. Darum sagte Merkel auch: „Ich habe keine Illusion, wir haben keine Illusion: Es ist noch sehr, sehr viel Arbeit notwendig.“

Im Grundsatz ist die neue Vereinbarung zwischen Merkel, Hollande, Putin und Poroschenko ein Wiederaufguss der Minsker Vereinbarung vom September 2014, die niemals richtig umgesetzt wurde. „Wir haben jetzt einen Hoffnungsschimmer“, erklärte Merkel. Steinmeier sieht das genauso: Man habe erstmals klare zeitliche Vorgaben für die Umsetzung der Minsker Verpflichtungen vom September 2014 „zu Wahlen, Grenzkontrollen, Gefangenenaustausch, um nur einige zu nennen“.

Aber werden diese Vorgaben auch von allen Seiten gleich interpretiert? So sagte Poroschenko, die Ukraine solle die Kontrolle über die gemeinsame Grenze mit Russland bis Ende des Jahres zurückerlangen – unklar ist, ob Putin das genauso versteht. Der ukrainische Präsident sagte auch, man habe sich auf den Abzug aller ausländischen Soldaten vom Gebiet der Ukraine geeinigt. Putin verneint bis heute öffentlich, dass Russen in der Ostukraine kämpfen – es ist darum zweifelhaft, ob sich Poroschenkos Erwartungen erfüllen. Und wer will das kontrollieren?

Immerhin gibt es in der neuen Einigung aber auch wichtige Unterschiede zum September – sie geben Anlass für berechtigte Hoffnung.

Erstens: Die alte Vereinbarung wurde nur zwischen den unmittelbaren Konfliktparteien geschlossen. Die Einigung von Donnerstagmorgen hingegen wurde von den politischen Führern Russlands (stellvertretend auch für die Separatisten), des Westens und der Ukraine ausgehandelt. Es ist eine Vereinbarung auf höchster politischer Ebene. Das verstärkt den Druck und die Aussicht, dass sich alle Seiten auch ernsthaft verpflichtet fühlen, die Kompromisse umzusetzen.

Zweitens: Es soll ein Aufsichtsgremium geben, das aus Vertretern Russlands, der Ukraine, Deutschlands und Frankreichs besteht und die Umsetzung der Vereinbarungen überwacht. Das ist von größter Wichtigkeit, weil dort alle Konflikte ohne große Vorbereitungen auf diplomatischer Ebene schnell besprochen werden können, bevor wieder geschossen wird, weil sich die eine oder andere Partei getäuscht oder bedroht fühlt. So etwas gab es zuvor nicht.

Drittens: Die neue Vereinbarung ist eingebettet in ein Paket nicht nur zur Konfliktlösung in der Ukraine, sondern auch zu einem Neustart in den Beziehungen zwischen Russland, der Ukraine und dem Westen. Startrampe soll eine mögliche Freihandelszone von Wladiwostok bis Lissabon sein. Die EU verpflichtet sich ausdrücklich, mit Russland über Moskaus Bedenken zum geplanten Freihandelsabkommen zwischen der EU und der Ukraine zu verhandeln, ebenso über Energiefragen. Das Freihandelsabkommen war der Anlass für die russische Aggression in der Ostukraine und die Annexion der Krim. Moskau fürchtet eine zu starke Anbindung der Ukraine an den Westen.

In der Vereinbarung verpflichtet sich auch Putin, die „territoriale Integrität“ der Ukraine anzuerkennen. Das ist zunächst ein Erfolg für den Westen. Was das aber in der Praxis bedeutet, bleibt abzuwarten. Interessant ist, dass es keinen Hinweis gibt, dass sich Kiew zur Blockfreiheit verpflichtet – es ist Putins oberstes Ziel, dass die Ukraine nicht Mitglied von EU und Nato wird. Womöglich versucht er jetzt, dies durch seine eigene Interpretation des Textes zu erreichen.

Eine der Fragen, die nicht geklärt zu sein scheinen, ist der künftige Status der Ostukraine. Das Thema könnte den Kompromiss gefährden. Putin sagte, Teil der Vereinbarung sei „eine Verfassungsreform, in der die gesetzlichen Rechte der Menschen im Donezk-Gebiet gewahrt werden müssen“. Poroschenko bestritt, dass es eine Vereinbarung über weitgehende Autonomie in der Ostukraine gegeben habe. Die Minsker Lösung: Das ukrainische Parlament soll den östlichen Regionen als Bedingung dafür, dass Kiew wieder die Kontrolle über seine Ostgrenze bekommt, weitreichende Rechte zubilligen.