Vor dem Traumstrand ertrinken jährlich Hunderte afrikanischer Flüchtlinge, Tausende leben unter erbärmlichen Bedingungen auf der Insel. Sie wollen ein neues Leben beginnen, auch in Hamburg. Ein Besuch wenige Tage vor Heiligabend.

Die Pakete im Büro von Giuseppe Cannarile werden erst am Weihnachtstag aufgemacht. Sie enthalten Panettone, den traditionellen italienischen Weihnachtskuchen. Kapitänleutnant Cannarile hat einen guten besorgt für sich und seine Mannschaft von der Küstenwache in Lampedusa, die er seine Ragazzi nennt, seine Jungs. Sie werden ihn anschneiden und dazu Weihnachtslieder singen. Sie werden am Heiligen Abend den Gottesdienst in der San-Gerlando-Kirche besuchen, und am nächsten Mittag werden sie mit Videotelefonen ihre Frauen und Kinder zu Hause auf dem Festland anrufen, um ihnen frohe Weihnachten zu wünschen. Was man eben so macht auf einer einsamen Insel fernab der Heimat.

Jetzt muss nur noch das Wetter mitspielen. Wenn es ruhig und mild ist, werden die Boote kommen. Das Flüchtlingsdrama von Lampedusa kennt keine Feiertage. Dann wird die Küstenwache ausrücken müssen mit ihren acht Seenotrettungskreuzern vom Typ 300 und die unterkühlten und hungrigen Menschen von den viel zu kleinen Fischerbooten ziehen. 200-mal hat sie das allein in diesem Jahr schon getan. 14.000 Menschen konnten dabei in Sicherheit gebracht werden. Wie viele nicht gerettet werden konnten, Hunderte, vielleicht Tausende, weiß niemand genau. „An sie werden wir an Weihnachten besonders denken“, sagt Cannarile.

An diesem Freitagmorgen hat es wieder einen Einsatz gegeben. Diesmal ist alles gut gegangen, alle 45 Bootsinsassen konnten lebend geborgen werden. In der Nacht zuvor waren es fast 300. Es vergeht kaum ein Tag, an dem unter der Nummer 1530 kein Notruf eingeht. Aber wenn niemand zu Tode kommt, steht nichts in der Zeitung. Dann kommen keine Politiker, um Kränze abzulegen. Dann ist Lampedusa allein mit sich und seinem Problem.

Mohammed ist einer von denen, die es lebend hierher geschafft haben. Wir treffen ihn im sogenannten Erste-Hilfe- und Aufnahmezentrum. Es liegt etwas außerhalb des Orts in der Contrada Imbriacola, am Ende einer Straße, die an Feldern vorbeiführt und an einem Schwimmbad, das nie fertiggebaut wurde. Wer das schwer bewachte Eisentor passieren will, muss eine Genehmigung vorlegen, unterschrieben vom Innenministerium in Rom und ausgestellt von der Präfektur der sizilianischen Provinzstadt Agrigent, die von Lampedusa fast doppelt so weit entfernt ist wie die tunesische Küste. Wir bekommen eine halbe Stunde. In die ein- bis zweigeschossigen Funktionsgebäude und die Behausungen, zwölf Betten pro Zimmer, lässt man uns nicht.

342 Flüchtlinge, unter ihnen 13 Kinder, halten sich an diesem Tag hier auf. Das sind fast 100 mehr, als es offiziell an Plätzen gibt. „Aber wir haben auch Verwaltungsgebäude zur Verfügung gestellt, vornehmlich für Familien“, sagt Cristiano Greco, stellvertretender Leiter von Lampedusa Accoglienza, dem sozialen Träger des Zentrums. Jetzt könne man fast 600 Menschen ein Dach über dem Kopf bieten. Viel mehr als das allerdings nicht. Eine Gruppe spielt auf der Straße Fußball mit einem Klumpen, der einmal ein Volleyball war. Andere versammeln sich vor den beiden Telefonzellen und warten darauf, ihren Lieben zu Hause in Gambia, Nigeria oder Eritrea zu sagen, dass sie jetzt in Europa sind.

Wer nur 800 Dollar für die Überfahrt zahlt, geht ein höheres Risiko ein

Die meisten sind junge Männer wie Mohammed. 18 Jahre alt sei er und aus Syrien. Mohammed sieht nicht aus, wie man sich einen Flüchtling vorstellt. Er trägt schicke Kleidung und spricht sauberes Schulenglisch. Einige hätten sogar ein iPad dabei, erzählt Greco. Mohammed gehört zu den 25 Bewohnern, die sich schon seit Ende Oktober hier aufhalten. Das Zentrum ist nicht ausgelegt für Fälle wie ihn. Auf Lampedusa bekommt man nur das Nötigste: medizinische Versorgung, Verpflegung, warme Kleidung. Neuerdings gibt es Schulräume, in denen Italienisch- und Informatikkurse angeboten werden und Basteln und Malen für die Kinder. Nach fünf, spätestens sechs Tagen werden die Einwanderer nach Sizilien gebracht. „Dort sind die Zentren wesentlich besser ausgestattet“, sagt Greco. Erst dort kann man einen Asylantrag stellen.

Mohammed weiß nicht, wann sie ihn nach Sizilien bringen. 1000 Dollar hat er den Schleusern in Libyen für die Überfahrt bezahlt. Für den Preis darf man auf ein halbwegs stabiles Boot hoffen. Wer nur 800 zahlen kann, muss ein höheres Risiko in Kauf nehmen. Als Mohammed ins Zentrum kam, haben sie auf seinem Handy Fotos gefunden, die ihn am Steuer des Schiffs zeigen. Sie hätten ihm gedroht, ihn wegen Schlepperei vor Gericht zu stellen, und da habe er den Behörden verraten, wer der Kapitän war. Dem wird jetzt der Prozess gemacht. Solange Mohammeds Zeugenaussage gebraucht wird, darf er die Insel nicht verlassen. „Es ist wie ein Gefängnis hier“, raunt er uns zu. Dann geht eine Mitarbeiterin des Zentrums dazwischen. Kontakt zu Flüchtlingen sei unerwünscht.

Am Montag vergangener Woche zeigte das italienische Fernsehen geheime Aufnahmen aus dem Innenleben des Zentrums. Man sieht Afrikaner, die sich ausziehen müssen und von Mitarbeitern mit einem Benzinderivat besprüht werden, angeblich gegen Krätze, obwohl kein Ankömmling entsprechende Symptome aufgewiesen habe. Man sieht Sozialarbeiter, die scheinbar gelangweilt Kleidungsstücke herumwerfen. Die EU hat eine Untersuchung der Vorgänge angeordnet. „Das sind Szenen wie aus einem Konzentrationslager“, sagt Giusi Nicolini, die Bürgermeisterin. „Diese Form der Behandlung von Flüchtlingen ist beschämend für Italien. So kann es nicht weitergehen.“

So wird es weitergehen auf Lampedusa. „Eine Insel voller Leid, die die Last der Gleichgültigkeit der Welt zu tragen hat“, ist auf einem der handbeschriebenen Transparente zu lesen, denen man hier öfter begegnet. Der Papst ist auf Lampedusa gewesen im Juli, es war seine allererste Dienstreise als Oberhaupt der Katholischen Kirche. Am neuen Hafen hat Franziskus für die Flüchtlinge gebetet, die es nicht bis dorthin geschafft haben. Ihre Zahl wird auf 19.000 geschätzt, bezogen auf die vergangenen 25 Jahre. Die Toten steckten „wie ein Dorn in unseren Herzen“, sagte Franziskus und beklagte eine „Globalisierung der Gleichgültigkeit“. Der Papstbesuch ist längst zu einer Produktlinie geworden. Es gibt ihn auf Kaffeebechern, Ansichtskarten und Kühlschrankmagneten. Zum ersten Mal hatten sie auf Lampedusa das Gefühl, dass da jemand ist im fernen Rom, der ihre Sorgen und Bedürfnisse ernst nimmt.

Zum ersten Mal war es keine Katastrophe, die die größte und südlichste der Pelagischen Inseln auf die Landkarte der Weltöffentlichkeit gebracht hat. 1986 schlugen auf Lampedusa zwei Scud-Raketen ein. Niemand wurde verletzt, die Aufregung war groß. Ob es sich wirklich um einen libyschen Vergeltungsschlag für amerikanische Luftangriffe handelt, ist bis heute ungeklärt. Jedenfalls hat er Lampedusa bekannt gemacht. Heute glaubt man, dass die Raketen die Initialzündung für den Tourismus waren. Er ernährt längst mehr Einheimische als der Fischfang und der Handel mit Schwämmen.

Maurizio La Vecchia gehört zu denen, die von den Gästen leben. Als er vor 25 Jahren von seiner Heimatstadt Palermo nach Lampedusa kam, hatte er nicht viel mehr mitgenommen als ein Surfbrett und seine Trommeln, mit denen er in Musikklubs auftrat. Er ist auf dieser Insel hängen geblieben; wie Matteo aus Brescia, der Boote baut; wie Alessia aus Benevento, die in einem Restaurant arbeitet; wie Paola aus Rom, die kam, um über Schildkröten zu forschen, später Straßenhunde aufnahm und jetzt als Kunsthandwerkerin und Dolmetscherin tätig ist. Auf Lampedusa geboren sind nur die wenigsten, schon weil es hier keine Geburtsklinik gibt.

Maurizio, der sich selbst Paco nennt, betreibt das Apartmenthotel La Salina, neuerdings auch das Lokal „Mughara“ im alten Hafen. Dort bietet er regelmäßig Livemusik an und serviert dazu arabische Gerichte, die seine tunesische Frau zubereitet: Couscous, dazu das, was den Fischern hier so ins Netz geht: Zackenbarsch, Thunfisch, Schwertfisch. Viel ist nicht los im Winter. „Wir haben nur ein halbes Jahr Zeit, um Geld für das ganze Jahr zu verdienen“, sagt Paco. Und dann noch die Wirtschaftskrise, die das ganze Land im Würgegriff hält. „Aber die Leute sollen doch leben. Wenn du ein paar Euro für ein Bier zahlst, dann tust du das doch auch, um dich am Leben zu fühlen.“ Nur muss man diese paar Euro eben auch übrig haben. Das ist nicht einfach in einem Ort, an dem der Liter Treibstoff 50 Cent teurer ist als im Landesmittel, das durchschnittliche Einkommen (17.649 Euro) aber 2000 Euro niedriger. Der sein Trinkwasser importieren muss, weil eine Entsalzungsanlage fehlt. Der seine kranken Bewohner zwingt, nach Palermo oder weiter nach Rom zu fliegen, um sich behandeln zu lassen, weil es keine geeigneten medizinischen Einrichtungen gibt. Der selbst kein Geld hat, um ein Schwimmbad oder ein Kino zu unterhalten oder auch nur die Schulgebäude zu sanieren. Die Kinder von Lampedusa müssen deshalb in zwei Schichten zur Schule gehen: die Gymnasiasten vormittags, die Grund- und Mittelschüler nachmittags.

Eine Freihandelszone und Steuererleichterungen könnten die Insel aus ihrer Isolation befreien, glaubt Paco. Andernfalls werde es auf Dauer schwer, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Bücher gibt es auf Lampedusa auch für viel Geld nicht zu kaufen. Die Bürgermeisterin hat deshalb appelliert, Literatur nach Lampedusa zu schicken oder für Bücher zu spenden. Jetzt stapeln sich im Erdgeschoss unter ihrem Büro in der Via Cameroni Buchsendungen aus aller Welt. Noch fehlt ein geeigneter Raum, um sie aufzustellen. Er wird sich finden, so wie er sich schon für die Kinder- und Jugendbibliothek gefunden hat.

Sie hat im November auf der Via Roma eröffnet, der Hauptstraße, die in diesen Tagen von künstlichen Eiszapfen erleuchtet wird, die es in Wirklichkeit hier nie zu sehen gibt. Ihre Bücher sollen den mehr als 600 Kindern und Jugendlichen von Lampedusa einen Zugang zur Welt da draußen eröffnen. Ihnen, aber auch den Kindern der Flüchtlinge. Die Sprache der Bilder verstehen auch sie. Was Grenzen bedeuten, illegale Einwanderung, Asylverfahren, verstehen sie nicht.

Die Toten und der Traumstrand, das ist nur schwer zusammenzubekommen

„Die Kinder machen keinen Unterschied, woher diese Menschen kommen“, sagt Paco, „es sind wir Erwachsene, die diesen Unterschied machen.“ Die Fünftklässler der Grundschule von Lampedusa haben die Katastrophe vom 3. Oktober in Bildern verarbeitet. Sie haben Menschen im Wasser gemalt, die um Hilfe rufen und die Arme nach den Rettungsringen der Küstenwache ausstrecken. Im Morgengrauen jenes verhängnisvollen Tages war ein Fischkutter vor Lampedusa aufgekreuzt. An Bord befanden sich etwa 545 Passagiere aus Eritrea, Somalia, Ghana, Äthiopien und Tunesien. Sie hatten sich zwei Tage zuvor von der libyschen Hafenstadt Misrata aus auf den Weg gemacht.

Als die Gestade Lampedusas schon in Sichtweite waren, wollte einer der Insassen Hilfe anfordern. Er setzte ein Tuch in Brand und schwenkte es. Das Feuer griff auf ausgelaufenes Benzin über. In Panik liefen die Menschen auf die andere Seite des hoffnungslos überfrachteten Schiffes und brachten es so binnen Sekunden zum Kentern. Nur 155 Insassen konnten gerettet werden, viele von ihnen durch Fischer, die noch vor der Küstenwache am Unglücksort eintrafen. Vielleicht wären es mehr gewesen, wenn es in Italien nicht unter Strafe stünde, illegalen Einwanderern zu helfen. Für 390 Menschen wurde Lampedusa, wo ihr Leben neu beginnen sollte, zum Grab.

Der Schauplatz der Katastrophe ist nur eine halbe Seemeile vom Kaninchenstrand entfernt. Er wurde von den Nutzern des Reiseportals Tripadvisor zum schönsten Strand der Welt gewählt, noch vor der Grace Bay auf den karibischen Turks- und Caicosinseln und dem Whitehaven Beach in Australien. Wer die windgeschützte Bucht auf dem Landweg erreichen will, muss einen etwas beschwerlichen Fußweg über felsiges Gelände in Kauf nehmen. Am Ziel angekommen, versinkt der Fuß in weißem Sand, so fein wie Mehl, und hellblauem, kristallklarem Wasser, das auch im Dezember noch warm genug ist, um darin ein Bad zu nehmen. Auf der gegenüberliegenden Kanincheninsel legen im Frühjahr die vom Aussterben bedrohten Unechten Karettschildkröten ihre Eier ab. Der Sänger Domenico Modugno, dem 1958 ein Welthit gelang („Volare, oh, oh“), hat sich diesen Platz zum Sterben ausgesucht. Sein Haus ist das Einzige in diesem Paradies am Ende Europas.

Die Toten und der Traumstrand – das ist nur schwer zusammenzubekommen. Wer auf Lampedusa leben will, muss das. Annalisa D’Ancona will auf Lampedusa leben. Sie hat all ihre 33 Jahre hier verbracht. Sie hat erlebt, wie sich die Insel in dieser Zeit zu einer Hochsicherheitszone gewandelt hat. Im Winter, wenn es keine Touristen gibt, scheint die Insel den Uniformierten zu gehören: der Polizei, den Carabinieri, der Küstenwache, der Finanzpolizei, dem Militär. Die Ordnungskräfte bringen Umsatz, auch dem kleinen Imbiss, den Annalisa mit ihrem Bruder betreibt. Aber manchmal fragt sie sich, ob die Politik die Bewohner nicht nur als Störenfriede auf diesem strategischen Außenposten begreift.

Annalisa aber will sich einmischen. 2009 sind sie und andere vor das Flüchtlingslager gezogen, das damals noch als „Identifikations- und Abschiebezentrum“ geplant war, und haben sich mit den Insassen solidarisiert. Es war die Geburtsstunde von Askavusa, zu Deutsch: barfuß. Die Initiative organisiert einmal im Jahr ein Filmfestival auf der Insel. Und sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Schicksal der Migranten vor dem Vergessen zu bewahren. Deren Hinterlassenschaften haben die Leute von Askavusa gesammelt, teils aus dem Meer gefischt, teils aus den Wracks gezogen, die auf dem sogenannten Schiffsfriedhof am Hafen wie Mahnmale aufragen. Berge von Kleidung, Schuhe, Briefe, Tee, Medikamente, Zigaretten, Geldbörsen, Töpfe, Geschirr, Kassetten, Milchfläschchen, Glücksbringer, Bibeln, Korane.

Der Künstler Giacomo Sferlazzo hat einiges davon zu Installationen verarbeitet. Sie stehen in seinem von Pinien umwucherten Haus nahe dem Friedhof. Vom ersten Stock aus ist der blaue Hangar am Flughafen zu sehen, in dem sie damals die Opfer vom 3. Oktober aufgebahrt haben, damit die Angehörigen sie identifizieren konnten.

Eigentlich wollten die Aktivisten von Askavusa die Fundstücke in einem Museum ausstellen. Die Kommune hat ihnen dafür einen Raum zur Verfügung gestellt. „Aber das hätte zu viele Kompromisse bedeutet“, sagt Annalisa. Sie wollten nicht abhängig sein, nicht Teil des Business, zu dem die Einwanderung auch geworden sei.

Ihren Verein wollen sie jetzt auflösen und als Kooperative weiterführen. Ein Teil ihrer Sammlung soll trotzdem von Januar an auf der Insel zu sehen sein, privat finanziert. In Deutschland gebe es vier Museen, die die Stücke ausstellen wollen. Das Sammeln, die Auseinandersetzung mit dem Schicksal der Migranten, habe sie sehr verändert, sagt Annalisa. Lampedusa sei immer ein Ort gewesen, in dem Menschen kommen und gehen. Natürlich gebe es auch hier Rassismus. „Aber man darf nicht unterschätzen, was es für die Einheimischen bedeutet, das Gefühl zu haben, in einem Kriegsgebiet zu wohnen.“

Während des Arabischen Frühlings 2011 hatte Rom die Situation eskalieren lassen, indem es den Weitertransport nach Sizilien stoppte. Tausende Tunesier nächtigten damals unter freiem Himmel auf dem „Hügel der Schande“, wie die Einheimischen die bald von Abfällen übersäte Erhebung am Hafen nannten. „Die Situation war völlig außer Kontrolle“, sagt Greco, „und der Staat war nicht da, Europa war nicht da, niemand war da.“ Verglichen damit habe sich die Situation normalisiert, soweit man davon sprechen kann.

Wenn die Menschen von Lampedusa einen Wunsch zu Weihnachten haben, dann ist es wohl der: ein normales Leben führen zu können. Die Fußballmannschaft musste sich gerade aus der vierthöchsten italienischen Amateurliga zurückziehen, weil ein Sponsor fehlt und dem Stadion die Umzäunung, seit sie für den Papstbesuch aus Sicherheitsgründen entfernt wurde. Jetzt haben sie einen neuen Verein gegründet, Virtus Lampedusa, und treten zwei Klassen tiefer an. Die Heimspiele finden eine Flugstunde entfernt in Palermo statt. Auf dem heimischen Grandplatz gibt es an diesem Abend ein Trainingsspiel unter Flutlicht, direkt neben dem Schiffsfriedhof. Für diesmal gewinnt die Normalität gegen den Wahnsinn. Aber das Rückspiel wird kommen.

Das Weihnachten von Lampedusa könnte überall in Italien sein, mit seinem Panettone, den Lichtern, den bunten Krippen. Aber kann man dieses Fest wirklich entspannt feiern, nach diesem traumatischen Jahr und den vielen Toten? „Es wird so gefeiert wie in allen anderen Jahren“, antwortet der Diakon von San Gerlando kurz angebunden. Aber jetzt müsse er wirklich los, einen Krankenbesuch abstatten.

In Italien droht den Flüchtlingen ein Leben auf der Straße

Wünsche im Flüchtlingszentrum jemand geistlichen Beistand, komme der Priester schon mal vorbei, erzählt Christiano Greco vom Zentrum. Der kleine Altar mit der Madonnenfigur aber, der früher einmal am Straßenrand stand, ist entfernt worden. Man wolle keine religiösen Konflikte unter den Einwanderern riskieren.

Auf der Via Roma treffen wir Mohammed wieder. Er ist durch ein Loch im Zaun des Flüchtlingszentrums geschlüpft. Jeder kennt es, aber keiner hat es verschlossen. Wohin sollten die Einwanderer auch fliehen? Die Spaziergänge durch den kleinen Ort sind für Mohammed die einzige Abwechslung. Mit 17 hätten ihn seine Eltern zum Arbeiten nach Libyen geschickt, um Geld zu verdienen. Sobald er in Sizilien ist, will er durchbrennen. Am liebsten nach Norwegen oder Schweden. Dort könne man Wirtschaft studieren, ohne nebenher arbeiten zu müssen, um es zu finanzieren. Wenn sie ihm den Fingerabdruck abnehmen, dann wird er immer wieder nach Italien zurückgeschickt werden, so will es das Dubliner Übereinkommen. In Italien landen Tausende anerkannte Flüchtlinge auf der Straße, ohne Arbeit und Obdach. Zurück nach Syrien kann Mohammed auch nicht mehr. Er wisse nicht mal, ob seine Eltern noch leben. Und er hat Angst, dass der Schleuser, dessen Kapitän er denunziert hat, sich an ihm rächt. Mohammed sagt: „Als ich ankam, dachte ich, ich hätte das Schlimmste hinter mir. Jetzt frage ich mich, ob es vielleicht vor mir liegt.“

Dazwischen liegt Lampedusa. Eine Insel irgendwo im Mittelmeer, die dagegen kämpft, von der Welt vergessen zu werden.