Bürgermeisterin Giusi Nicolini über das Schicksal ihrer Insel

Lampedusa. Wir haben Glück, Giusi Nicolini an ihrem Amtssitz in der Via Cameroni anzutreffen. Erst am Vorabend ist die Bürgermeisterin von einer Dienstreise zurückgekehrt. Und schon am übernächsten Morgen wird sie wieder ins Flugzeug nach Palermo steigen, um für ihre Inseln zu kämpfen.

Hamburger Abendblatt:

Signora Sindaco, Weihnachten steht vor der Tür. Wird es nach den Ereignissen dieses Jahres ein Fest wie in allen Jahren zuvor?

Giusi Nicolini:

Nein. Für Lampedusa wie für die Migranten ist nichts mehr, wie es vorher war. Aber wenn jemand erwartet haben sollte, dass sich schnell etwas ändert, sieht er sich getäuscht. Vor uns liegt ein weiter Weg. 20 Jahre lang hat das Meer alles zugedeckt. Die Toten mussten erst an die Oberfläche kommen, damit überhaupt etwas angestoßen wurde. Dass Papst Franziskus mit seinem Besuch auf der Insel diese Dramen sichtbar gemacht hat, ist eine fast schon revolutionäre Entwicklung.

Werden wir 2014 weitere Tragödien erleben, oder stehen wir an einem Wendepunkt?

Nicolini:

Ich glaube, dass ein neuer Wind von Lampedusa ausgeht. Es gibt ein Bewusstsein für die Problematik. Unser Gefühl aber, isoliert zu sein, wird nur bekämpft werden können, wenn Lampedusa von dem historischen Schicksal befreit wird, ein Grenzposten zu sein. Die Militarisierung, dazu die Entfernung vom Festland, all das hat zu einem stillschweigenden Pakt zwischen Italien und dieser Insel geführt nach dem Motto: Baut nur ohne Vorschriften, hinterzieht Steuern, macht, was ihr wollt! Das hat zwar auf der einen Seite das Überleben dieser Gemeinde gesichert. Auf der anderen aber hat es zum Bruch der staatsbürgerlichen Rechte geführt. Das Gefühl, verlassen zu sein, wird aber auch so lange nicht besiegt werden können, solange wir keine vernünftige Verkehrsverbindung nach Sizilien haben.

Welchen Einfluss werden die Katastrophen dieses Jahres auf den Tourismus auf Lampedusa haben?

Nicolini:

Keinen, das lässt sich aus den Daten der vergangenen 20 Jahre schließen. Die Zahl der Migranten ist in dieser Zeit proportional zu der der Touristen gewachsen. Wenn es also einen Zusammenhang gibt, dann ist er positiv. Die einzige Ausnahme war während des Arabischen Frühlings 2011, als einfach keine Flüchtlinge mehr aufs Festland gebracht wurden und es zwei Monate lang im Fernsehen nur fürchterliche Bilder zu sehen gab von Tausenden Menschen, die überall auf der Insel im Freien übernachten mussten. Italien hat ein blamables Bild abgegeben.

Welches sind Ihre Wünsche für Weihnachten und für das neue Jahr?

Nicolini:

Dass wir keine Toten mehr in Empfang nehmen müssen. Für mich hat jeder Mensch das Recht, sich zu bewegen. Eine Staatsgrenze kann keine Mauer sein, die die Menschheit voneinander trennt. Die Globalisierung sollte diese Vorstellung eigentlich gesprengt haben, stattdessen hat sie sich noch verstärkt. Auf diesen Booten sind Kinder, die nicht einmal die Wahl hatten, ob sie einsteigen und ihr Leben riskieren. Sie sterben, oder sie landen in diesen schändlichen Aufnahmezentren. An sie denke ich. Aber auch an unsere Kinder, die nicht die Wahl hatten, ob sie auf Lampedusa geboren werden. Keine Wahl zu haben – das ist das Band, das uns und die Afrikaner verbindet. Das all die verbindet, die an den Rand gedrängt sind. Alle Lampedusas dieser Welt.