Die Helfer aus Lampedusa konnten bisher nur 155 von etwa 500 Flüchtlingen retten, deren Boot vor der Insel gekentert war. In den Auffanglagern herrschen teilweise schlimme Zustände – viele Migranten reisen deshalb nach Norden

Die Einwohner von Lampedusa kämpfen mit den Tränen, als sie von der Katastrophe vor ihrer Insel berichten, bei der mindestens 111 afrikanische Flüchtlinge ertranken. „Wir verbrachten die Nacht auf unserem Boot, als wir Schreie hörten. Wir eilten hinaus, um zu sehen, was geschieht, und erlebten einen Albtraum“, berichtet Alessandro Marino, der mit seiner Freundin Sharanna Buonocorso als Erster am Unglücksort war, als das mit etwa 500 afrikanischen Flüchtlingen völlig überladene Schiff vor der Küste sank.

„Es waren zwischen 150 und 200 Menschen im Wasser. Wir konnten 47 von ihnen retten. Mehr, und wir wären selbst gesunken“, sagt der Ladenbesitzer aus Lampedusa. „Viele schrien. Und viele waren nackt, um die Chance zu vergrößern, an der Wasseroberfläche zu bleiben“, erzählt seine sichtlich erschöpfte Freundin. Die beiden blicken über den Hafen. Dort haben Rettungsleute die Opfer in schwarzen Leichensäcken aufgereiht.

Die Flüchtlinge hätten dabei geholfen, ihre Leidensgenossen aus dem Wasser zu ziehen, sagt Buonocorso. Doch von Minute zu Minute seien die Hilferufe schwächer geworden. Letztlich konnten nur 155 Flüchtlinge aus dem Wasser gerettet werden. Nach der Bergung von 111 Leichen wurden am Freitagmittag noch mehr als 200 Menschen vermisst. Taucher berichteten, sie hätten um das Wrack in 40 Meter Tiefe noch etliche Leichen gesehen.

Das in der libyschen Hafenstadt Misrata gestartete Schiff war am Donnerstagmorgen wenige Hundert Meter vor der Küste Lampedusas gekentert. Die Flüchtlinge hatten offenbar eine Decke in Brand gesteckt, um die Küstenwache auf sich aufmerksam zu machen, nachdem der Motor ausgefallen war. Als das Feuer an Bord außer Kontrolle geriet, brach Panik aus, woraufhin das 20 Meter lange Schiff kenterte und viele Insassen in die Tiefe riss.

Immer wieder sterben Flüchtlinge auf dem gefahrvollen Weg über das Mittelmeer. Viele von ihnen kommen nach Griechenland, Malta oder eben nach Italien. Das Land ist mit der Masse an Flüchtlingen meist überfordert, viele Auffanglager sind völlig überfüllt. Vor allem im offenen Durchgangslager auf Lampedusa herrschen Augenzeugenberichten zufolge schlimme Zustände.

Flüchtlinge dürfen in Italien nur einige Monate in den Erstaufnahmelagern bleiben, danach werden viele von ihnen obdachlos. Plätze in staatlichen Unterkünften sind rar. Für langfristige Integrationspläne ist kein Geld da: Nachdem ein Flüchtling seinen Asylantrag gestellt hat, bekommt er eine ein- bis dreijährige Aufenthaltsgenehmigung. Ab diesem Moment ist er auf sich gestellt. Viele Migranten reisen auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen nach Nordeuropa. Einige hat es nach Hamburg verschlagen.

Um auf dem Boden der St. Pauli Kirche zu schlafen, ist es schon viel zu kalt – sagt Andreas A., einer der Flüchtlinge, die seit fünf Monaten in der Kirche kampieren. Der 30-Jährige aus Nord-Ghana hofft, dass er und seine Schicksalsgenossen bald eine andere Unterkunft finden können. Denn trotz der Solidarität, die ihnen die Gemeinde entgegenbrachte, kann die Kirche keine dauerhafte Bleibe sein.

Was danach passiert, wissen die 80 Flüchtlinge aus Westafrika nicht. Nach Angaben des Senats müssen ihre Asylanträge einzeln geprüft werden. Wie viele von den jungen Männern in der Hansestadt bleiben werden, ist ungewiss. Eines steht fest, sagt Andreas: Keiner von ihnen will zurück nach Italien.

Doch laut europäischem Flüchtlingsrecht – der Dublin-II-Verordnung – müssen die Flüchtlinge zurück in das Land, in dem sie ihren Asylantrag ursprünglich gestellt haben. Davon wollen sie nichts wissen: „Alles wäre besser, als zurück nach Italien zu gehen. Dort haben wir einfach keine Zukunft“, sagt Andreas. Sie wissen, wovon sie reden: Bevor sie nach Deutschland kamen, mussten die Hamburger Flüchtlinge in Italien auf der Straße leben.

Doch es gibt auch positive Beispiele. Der Pakistaner Mohammed Aijoub teilte denselben Leidensweg wie Andreas und die anderen Flüchtlinge in der St. Pauli Kirche. Auch er kam vor zwei Jahren aus Libyen nach Italien. Auch er musste mit den harten Bedingungen in den italienischen Aufnahmezentren kämpfen. Doch in Italien hatte Mohammed das Glück, hilfsbereite Menschen kennenzulernen, die ihn unterstützten, sich in der neuen Heimat zu integrieren. Mohammeds und Andreas parallele Geschichten zeigen, dass Integration nur eine Frage des Willens ist.

Bis vor zwei Jahren lebte und arbeitete Mohammed wie Andreas A. in Libyen. Anders als der junge Ghanaer kam der 47-jährige Pakistaner allerdings nicht nach Nordafrika, um einen Ausweg aus der Armut und der Gewalt zu finden, sondern um den Schlägern der pakistanischen Holzmafia zu entkommen. 2005 legte der damals 40 Jahre alte Förster und Familienvater aus der Region Punjab die Machenschaften der lokalen Holzindustrie offen. Daraufhin drohte sein Chef ihm mit dem Tod. Mohammed musste fliehen.

Wie Andreas fand auch Mohammed in Tripolis eine Arbeit in der blühenden Bauindustrie. Das Leben in der libyschen Hauptstadt, sagen beide Männer, war damals gut: Sie hatten Geld und eine Arbeit. Gerade als Mohammed mit den Einreisepapieren für seine Frau und Kinder beschäftigt war, brach 2011 der Bürgerkrieg aus.

Die EU schlug sich auf die Seite der Anti-Gaddafi-Rebellen. Der Diktator, der bis dahin gute Beziehungen zu den südeuropäischen Ländern hatte, fühlte sich betrogen. So griff er zur einzigen Waffe, die ihm zur Verfügung stand, um Europa unter Druck zu setzen: Er überflutete die EU mit den Migranten, die aus Zentralafrika nach Libyen kommen. Tausende Flüchtlinge wurden auf Schleuserboote verladen und übers Meer geschickt – ob sie das wollten oder nicht. Andreas und Mohammed wurden festgenommen und gezwungen, nach Italien auszuwandern.

Als Andreas und Mohammed in Lampedusa ankommen, ist die Lage auf der Insel kritisch: 400 Schlafplätze gibt es in den Notunterkünften auf der Insel. Die Migranten sind mindestens zehnmal so viele. Kurz darauf kommt es zu gewaltsamen Ausschreitungen. Die Regierung greift zu außerordentlichen Maßnahmen, um den Migrantenstrom zu steuern: Die Migranten, die ein Recht auf Flüchtlingsschutz haben, werden in verschiedenen Aufnahmezentren für Asylbewerber (CARA) verteilt. So kommt Andreas in ein Aufnahmezentrum in Taranto, wo ihm eine befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Mohammed wird hingegen nach Genua geschickt.

Doch auch die CARA stoßen inzwischen an ihre Grenzen. Deshalb reagiert die italienische Regierung im April 2011 mit einem „Notfallplan für Nordafrika“. Der italienische Zivilschutz sucht in ganz Italien nach Unterkünften für die Asylsuchenden, die tagtäglich auf Lampedusa und Sizilien landen. Die Situation im Süden, wo die Wirtschaftskrise bereits heftig wütet, eskaliert.

Trotz der Unterstützung mehrerer Hilfsorganisationen gibt es nicht annährend genügend Schlafplätze. So werden in das Projekt auch Privatpersonen und Hotels miteinbezogen. Zwischen 40 und 60 Euro am Tag zahlt das Innenministerium pro Flüchtling – ein verlockendes Angebot, vor allem für schlecht besuchte Hotels und Besitzer leer stehender Häuser. 1,3 Milliarden Euro investiert das Innenministerium in das Projekt. 27.000 Asylsuchende finden so eine temporäre Unterkunft.

Andreas landet mit 14 anderen Flüchtlingen in Gorgonzola, ein Dorf im weiten Umkreis von Mailand. Sie werden in einem Hotel am Rande des Dorfes untergebracht. Hier beginnt für den jungen Mann aus Ghana eine lange Wartezeit. Die italienische Regierung bezahlt für Unterkunft und Essen. Die jungen Männer dürfen zwar nach dem italienischen Asylgesetz eine Arbeit suchen. Doch ohne Sprachkenntnisse und Integrationshilfe versinken die Flüchtlinge im Mailänder Hinterland immer mehr in der Isolation.

Mohammed landet dagegen in Volterra, einem mittelalterlichen Dorf in der Nähe von Pisa. Gemeinsam mit 30 anderen Asylsuchenden wird er dort in einem Seniorenheim untergebracht. In dem Dorf, das von der Spitze eines Hügels über eine Landschaft aus Oliven- und Weinbergen emporragt, finden die Flüchtlinge nicht nur eine Unterkunft. Die lokale Caritas organisiert für sie Italienisch-Kurse, was ihnen ermöglicht, Kontakte zu den Einwohnern zu knüpfen.

Ungefähr zwei Jahre dürfen Andreas und Mohammed in ihren Unterkünften bleiben. Bis die Polizei ihnen im Februar 2013 kurzerhand mitteilt, dass der „Notfallplan für Nordafrika“ abgelaufen ist und dass sie ihre Sachen packen sollen.

In Gorgonzola sind Andreas und seine 14 Schicksalsgenossen verblüfft. Wo sollen sie hin? Die einzige „Integrationshilfe“, die vom Innenministerium vorgesehen wird, ist eine einmalige 500-Euro-Spende. Die Flüchtlinge versuchen sich zu wehren. Vergeblich. Mit seinen 500 Euro reist Andreas nach Mailand und weiter nach Rom. Er schläft auf der Straße. Immer wieder trifft er Menschen – Polizisten, andere Flüchtlinge –, die ihm sagen, er solle sich überlegen, aus Italien wegzuziehen. Nach Norden, nach Deutschland. So steigt er in einen Zug nach Hamburg.

In der Hansestadt schließt sich Andreas einer Gruppe von 300 Flüchtlingen an. Um sie bildet sich eine Solidaritätsbewegung. Die Pastoren der St. Pauli Kirche, Martin Paulekun und Sieghard Wilm, öffnen den Obdachlosen die Tür des Gotteshauses. „In Hamburg“, sagt Andreas, „habe ich endlich jemanden gefunden, der sich für mein Wohlergehen interessiert.“

Solidarität und persönliches Engagement: Diese zwei Faktoren spielen auch in Mohammeds Geschichte eine zentrale Rolle. Denn als die Polizei ihm und den anderen Flüchtlingen im Seniorenheim von Volterra den Räumungsbefehl erteilt, schalten sich seine neuen Freunde aus dem Dorf ein. Einige der Flüchtlinge haben Bekannte in Italien oder im Ausland und beschließen, weiterzureisen. Mohammed gefällt es im Dorf. Er möchte bleiben. Eine Caritas-Mitarbeiterin erzählt ihm von einem Pilotprojekt, bei dem Asylsuchende in Gastfamilien untergebracht werden. Mohammed bewirbt sich und lernt so Gabriella und Daniele Raspollini kennen. Im Juni 2013 nehmen die zwei Rentner aus dem Volterra-Umkreis den 47-jährigen Pakistaner bei sich auf.

Vier Monate wohnt der Pakistaner nun schon bei den Raspollini. Gerne hilft er ihnen bei den Haus- und Gartenarbeiten. „Trotz einiger anfänglicher Missverständnisse ist er jetzt wie ein Familienmitglied für uns geworden“, sagt Gabriella. Mit Danieles Hilfe konnte er kürzlich eine Ausbildungsstelle in einer lokalen Baufirma finden.

In Lampedusa kommen jeden Tag weitere Flüchtlinge ans Land. Viele von ihnen werden den Winter in Bahnhöfen oder verlassenen Gebäuden verbringen. Deshalb rebellierten kürzlich die Asylsuchenden in Lampedusa: Sie wollen nicht, dass ihr Asylantrag in Italien bearbeitet wird. Trotz einiger Gesetzesänderungen bleibt die Dublin-Verordnung in diesem Punkt aber unverändert: Zuständig für den Asylantrag ist das erste europäische Land, das man betritt.

„Was früher eine Ausnahmesituation war, ist zum Alltag geworden“, sagt Oliviero Forti, Immigrationsbeauftragter der italienischen Caritas. „Man kann nicht ausschließen, dass bald ein neuer Notfallplan ins Leben gerufen werden muss.“ Und danach? „Die italienische Regierung hat angekündigt, dass das Aufnahmenetzwerk für Asylsuchende um 400 Schlafplätze erweitert werden soll“, sagt Forti. Doch auch das sei nur eine Teillösung. „In Italien gibt es keine Sozialhilfe für Langzeitarbeitslose. Deshalb sollen wir dafür sorgen, dass die Flüchtlinge in kürzester Zeit den Zugang zur Berufswelt finden.“ Dabei gehe es darum, gezielt in erfolgreiche lokale Projekte zu investieren.

Im Fall von Mohammed hat sich die Investition gelohnt. Es sieht so aus, als ob die Baufirma, bei der er arbeitet, ihn übernehmen wird – nicht zuletzt wegen der Steuerbegünstigungen, die die Region Toskana den Unternehmen, die Flüchtlinge einstellen, verspricht. „Ich habe hier viele Freunde“, sagt Mohammed. „Sobald ich einen Arbeitsvertrag habe, werde ich meine Frau und meine Kinder nach Italien holen.“

Andreas’ Zukunft dagegen ist ungewiss. Zwar stoppten zuletzt immer mehr deutsche Gerichte die Abschiebung Asylsuchender aus humanitären Gründen. Es wird aber wohl noch lange dauern, bis der junge Mann aus Ghana genaue Pläne für seine Zukunft machen kann.