“New York Times“: Nach dem Sturm auf das US-Konsulat in Bengasi fehlen den USA im politischen Chaos die entscheidenden Aufklärungsmittel.

Hamburg/New York. Der brutale Angriff eines wütenden Mobs auf das amerikanische Konsulat im libyschen Bengasi am 11. September war angesichts des Todes von US-Botschafter Christopher Stevens und dreier weiterer Amerikaner nicht nur eine menschliche Tragödie - sie stellte auch einen schweren Schlag für die US-Geheimdienstoperationen in Nordafrika dar.

Wie die "New York Times" gestern unter Berufung auf US-Regierungsbeamte berichtete, lag in den beiden vom US-Konsulat genutzten Gebäuden in Bengasi eine Schlüsselbasis des Geheimdienstes CIA. Unter den fast 30 amerikanischen Diplomaten und Spezialisten, die fluchtartig aus der Stadt abtransportiert wurden, befanden sich demnach mehr als ein Dutzend CIA-Agenten. Sie hatten bis dahin eine entscheidende Rolle bei der Ausspähung und Analyse jener Gruppen gespielt, die nun in Libyen um die Macht ringen.

Derzeit seien diese Agenten über die USA und Europa verteilt; die Vorgänge in Libyen in dieser entscheidenden Phase seien schwer erfassbar. "Es ist ein katastrophaler Verlust für unsere Geheimdienstarbeit", räumte ein US-Regierungsbeamter ein, der anonym bleiben wollte. "Man hat uns die Augen ausgestochen." Ein anderer US-Beamter bestritt hingegen, dass die USA nun "blind in Bengasi" seien - man habe noch Satellitenaufklärung und abgehörte Mobiltelefongespräche zur Verfügung. Tatsächlich gibt es jedoch für "humint" - die Aufklärung durch Agenten vor Ort - keinen Ersatz. Die CIA-Agenten hatten auch die Aufgabe, schultergestützte Luftabwehrraketen der libyschen Armee aufzuspüren, die in die Hände islamistischer Milizen gefallen sind. Mit diesen Waffen lassen sich Passagiermaschinen abschießen. Der politische Analyst und Libyen-Spezialist Frederic Wehry sagte, die in der Region tief verwurzelte Salafisten-Gemeinschaft befinde sich im Aufruhr; in einer erhitzten Debatte zwischen radikalen und vergleichsweise moderaten Strömungen in Bezug auf politische Integration. Der Salafismus ist eine ultrakonservative Strömung innerhalb des Islam, der eine Rückbesinnung auf die Zeit des Propheten Mohammed und seiner Nachfolger fordert.

Wie nun enthüllt wurde, waren zwei der in Bengasi getöteten Amerikaner ehemalige Mitglieder der US-Elitetruppe Navy Seals. Das Team Six dieser Einheit tötete Al-Qaida-Führer Osama Bin Laden am 2. Mai 2011 im pakistanischen Abbottabad. Terrorexperten haben die Ansicht vertreten, der Sturm auf das US-Konsulat sei keineswegs aus spontaner Volkswut heraus erfolgt, sondern sei von al-Qaida geplant worden.

Am Freitag hatten Tausende Libyer gegen die Macht der bewaffneten Milizen protestiert; die Regierung setzte ihnen ein Ultimatum zur Waffenabgabe. Es hieß, die islamistische Miliz Ansar al-Scharia sei aus Bengasi und Derna vertrieben worden und wolle sich freiwillig auflösen. Ansar al-Scharia ist eine Art Sammelbezeichnung, die sich islamistische Gruppen im Jemen, in Tunesien, Ägypten, Marokko und in Libyen gegeben haben. Sie unterliegen keiner zentralen Kommandostruktur, sind von unterschiedlicher Radikalität und operieren weitgehend auf lokaler Ebene. Teile von Ansar al-Scharia - wie jene im Jemen - gehören jedoch zum Zweig "al-Qaida im Islamischen Maghreb", eine der gefährlichsten und bestbewaffneten Terrorgruppen der Welt. Sie dürfte weiterhin versuchen, das Chaos in Libyen für ihre Zwecke auszunutzen.