Sogar aus Amerika, Iran und Russland sind Kamerateams nach St. Pölten gereist. Schon am Freitag soll das Urteil fallen. Kann man ihm auch einen Mord nachweisen? Bilder zum Fall Josef Fritzl.

St. Pölten. In der kleinen Landeshauptstadt von Niederösterreich geht es zurzeit zu, als hätten sich der Papst, die Fifa oder Obama angesagt. Die Polizei ist in Alarmbereitschaft, die Hotelbetten sind ausgebucht, und die Behörden diskutieren seit Wochen, wie sie Hunderte von Journalisten aus aller Welt versorgen und in Schach halten können. Sie haben ein Medienzelt mit extra Handymasten aufgestellt, Straßen gesperrt und ein einwöchiges Flugverbot über dem Gebäude des St. Pöltener Landesgerichts verhängt. Es sollen keine Paparazzi-Helikopter knattern, wenn dem grauhaarigen alten Mann aus Amstetten, der die ganze Aufregung verursacht hat, der Prozess gemacht wird.

Josef Fritzl hat es nicht weit an diesem Morgen, es sind nur 100 Meter von seiner Zwei-Mann-Zelle in der Justizanstalt bis zum Großen Schwurgerichtssaal. Sechs Beamte der Justizwache werden ihn begleiten und dafür sorgen, dass er sich auf seinen Platz in der Mitte des Saals setzt, gegenüber der Vorsitzenden Richterin Andrea Humer. Sie wird Fritzl in die Augen schauen können, wenn er hört, was ihm die Staatsanwältin Christiane Burkheiser in ihrer 27 Seiten langen Anklage zur Last legt: Mord, Sklaverei, Vergewaltigung, Freiheitsentziehung, schwere Nötigung und Blutschande.

Das Verbrechen, das hinter diesen Vorwürfen steht, kennt jeder, seit es im vergangenen April in all seiner perfiden Grausamkeit ans Licht kam und weltweit als "Inzestfall von Amstetten" Schlagzeilen machte. 24 Jahre lang hatte Fritzl seine Tochter E. im Keller seines Hauses gefangen gehalten. 24 Jahre hat er sie mindestens jeden zweiten Tag vergewaltigt und sieben Kinder mit ihr gezeugt. 24 Jahre lang hat er Polizei, Jugendamt und die eigene Ehefrau getäuscht - und den besorgten Vater und Großvater, den erfolgreichen Ingenieur und Immobilienmakler, den honorigen Amstettener Bürger gegeben, während er unter Tage Gott spielte.

Seine Tochter habe sich einer Sekte angeschlossen, sagte er den Behörden, als er sie vermisst meldete. Nach der Geburt des dritten Inzestkindes wurde es eng in dem feuchten, fensterlosen und mitunter von Ratten befallenen Verlies, das er für seine Zweitfamilie eingerichtet hatte. Also legte er das Baby seiner Frau vor die Türe, gemeinsam mit einem Brief, den er seiner Tochter diktiert hatte: Sie habe keinen Platz für das Mädchen, stand darin, die Eltern mögen doch für sie sorgen. Zwei weitere Kinder ließ er mit diesem Trick "im Licht" aufwachsen, die zwei Ältesten und der Jüngste blieben bei ihrer Mutter "im Schatten", ein weiteres Kind starb 70 Stunden nach der Geburt. Fritzl verbrannte den Leichnam im Holzofen.

Hier setzt die Staatsanwaltschaft mit ihrem schwersten Vorwurf an. Sie beschuldigt Fritzl des Mordes durch unterlassene Hilfeleistung: Der kleine Junge sei blau angelaufen und habe keine Luft bekommen. Er hätte aber überleben können, wird die Anklägerin argumentieren - wenn Fritzl ihn ins Krankenhaus gebracht hätte, anstatt zu sagen: "So, wie's kommt, kommt's."

Josef Fritzl wird "weitgehend geständig" sein und sich zu den meisten Anklagepunkten schuldig bekennen. Das hat sein Anwalt Rudolf Mayer bereits angekündigt: Verteidigungsstrategie werde es "überhaupt keine geben. Mein Mandant hat gesagt, er sagt, was war. Ende. Aus." Den Mordvorwurf werde Fritzl allerdings zurückweisen, auch beim Anklagepunkt Sklaverei sei fragwürdig, ob der Tatbestand überhaupt erfüllt worden sei.

Die Verteidigung wird also offenbar versuchen, die Vorwürfe zu entkräften, die auch unbeteiligte Rechtsexperten für am schwersten nachweisbar halten. So bezeichnete etwa Klaus Schwaighofer, Leiter des Instituts für Strafrecht in Innsbruck, eine Verurteilung wegen Mordes als "ziemlich unwahrscheinlich". Auch der Nachweis der - in Österreich noch nie verhandelten - Sklaverei könne schwer zu führen sein, da die Definition auf Zwangsarbeit ausgerichtet zu sein scheine, sagte Schwaighofer.

Für Mord könnte Josef Fritzl lebenslänglich bekommen, für Sklaverei bis zu 20 Jahre - doch selbst wenn er in diesen Anklagepunkten nicht schuldig gesprochen wird, rechnet Fritzl laut seinem Anwalt damit, den Rest seines Lebens hinter Gittern zu verbringen. Die Höchststrafe bei Vergewaltigung beträgt immerhin 15 Jahre, und Josef Fritzl ist 73. Dazu kommt, dass ihn psychiatrische Gutachter zwar für voll zurechnungsfähig befanden, ihm aber eine "höhergradig seelisch-geistige Abartigkeit" bescheinigten. Die Staatsanwaltschaft hat deshalb beantragt, dass er seine Strafe in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher verbüßt.

200 bis 300 Journalisten sind angereist, Reporter von CNN, BBC, al-Dschasira, selbst aus dem Iran, aus Israel, aus Russland sind sie gekommen, um Antworten auf die vielen Fragen zu finden, die im Fall Fritzl noch offen sind: Womit rechtfertigt sich jemand, der zu solcher Grausamkeit fähig ist? Warum hat all die Jahre niemand etwas bemerkt? Wie haben E. und ihre Kinder das Martyrium überlebt? Aber selbst die 95 Berichterstatter, die in den Gerichtssaal dürfen, werden wohl enttäuscht werden. Bis auf den Anklagevortrag und die Urteilsverlesung wird der Prozess voraussichtlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden.

Der bevorstehende Prozess hat die Jagd nach Bildern von E. und ihren Kindern sowie nach Details aus dem neuen Leben, das sie seit einigen Monaten unter falschem Namen und an einem geheimen Ort führen, wieder angeheizt. Das britische Boulevard-Blatt "Sun" hat bereits ein aktuelles Foto von E. und ihrer Tochter veröffentlicht. Deshalb ist E. mit ihren Kindern wieder in die Klinik geflüchtet, in der sie nach der Befreiung monatelang behandelt wurden. Dort hat man schon vergangenen Sommer die Paparazzi aus den Bäumen geholt, bevor sie Bilder davon machen konnten, wie die Kinder aus dem Keller zum ersten Mal Gras rochen oder Regen spürten.

E. wird auch beim Prozess nicht anwesend sein. Ihre Aussage wurde auf Video aufgezeichnet, damit sie dem Mann, der sie schon als Kind missbraucht hat, nicht noch einmal begegnen muss. Elf Stunden Material sind es, es wurde für die Geschworenen in kleine Teile portioniert, zu denen anschließend Fritzl Stellung nehmen soll. Außerdem werden vier Gutachter aussagen: eine Gerichtspsychiaterin, ein Neugeborenenmediziner und zwei Techniker, die das Verlies untersucht haben. Spätestens am Freitag sollen die Geschworenen ihr Urteil über Josef Fritzl fällen.

In Amstetten, der Heimat von Josef Fritzl, haben das einige schon längst getan. "Der gehört in seinen eigenen Keller", sagt einer in der Bäckerei neben dem grauen Betonbunker von Fritzl. "Luke auf, Luke zu, und Schluss", sagt ein anderer, der mit Fritzl im Angelverein war. Aber die meisten sagen einfach gar nichts mehr. Der Bürgermeister ist im Urlaub, Nachbarn spucken auf die Straße, wenn sie den Namen Josef Fritzl hören. Sie haben ihm nicht verziehen, dass er aus ihrer Stadt einen Schandfleck gemacht hat. Aber das sagen sie nicht, sie sagen nur: "Irgendwann muss doch a Ruah sein." Und dann drehen sie sich um.