Nach einem der schwersten Attentate an der Grenze zu Israel hat die ägyptische Armee eine Offensive gegen Extremisten im eigenen Land gestartet.

Tel Aviv/Al-Arisch. Als Reaktion auf die schweren Attacken militanter Islamisten hat das ägyptische Millitär am Donnerstag seine Truppen auf der Halbinsel Sinai verstärkt. Die Einheiten gingen vor allem in der Extremisten-Hochburg Scheich Suwaid und im Grenzort Rafah nahe dem palästinensischen Gazastreifen in Stellung, wie Augenzeugen sagten. Am Sonntag hatten militante Islamisten auf dem Sinai 16 ägyptische Soldaten getötet und die Grenze zu Israel durchbrochen. Am Mittwoch hatten sie weitere Angriffe auf ägyptische Militärkontrollpunkte gestartet.

Am Montag hatte Präsident Mohammed Mursi Rache für die Attacken versprochen, am Mittwoch hielt er sein Wort. Zwei Tage nachdem 35 Angreifer einen ägyptischen Armeeposten nahe der israelischen Grenze eingenommen und dabei 16 Soldaten getötet hatten, schlug Ägyptens Militär zurück. Im Touristenparadies am Roten Meer herrscht zum ersten Mal seit 1973 wieder Krieg.

Die Armee setzte Kampfhubschrauber und Jagdbomber gegen vermeintliche islamische Extremisten ein. Im Dorf Tumah sollen mindestens 20 "Terroristen" , so der offizielle Wortlaut, getötet worden sein. Die 2. Infanteriedivision umzingelte die Stadt Scheich Zuweid, in der kurz zuvor das Strom- und Handynetz ausgeschaltet worden war. Soldaten durchkämmten Hunderte Häuser und stellten angeblich Waffen und Munition sicher. Die extremistischen Elemente gaben sich nicht geschlagen: Allein in der Nacht zum Mittwoch wurden sieben Checkpoints der Armee angegriffen, mindestens ein Soldat verletzt. Auch Polizei- und Armeepatrouillen kamen unter Beschuss. Für den Al-Risa-Checkpoint war dies der 29. Angriff seit Beginn der ägyptischen Revolution im Januar 2011.

Die neue Offensive entspricht dem Volkswillen: Ägypten kocht nach dem erniedrigenden Erfolg der bisher noch unbekannten Terrororganisation vor Wut. Zwei Tage nach dem Angriff werden beschämende Details bekannt, die Licht auf die Unfähigkeit des Militärs werfen, des Chaos im Sinai Herr zu werden. Dort "beschützen Zivilisten die Soldaten statt umgekehrt", kommentierte die ägyptische Zeitung "Al Masri Al Youm" bissig. "Die Toten lagen kopfüber mit ihren Gesichtern im Essen", berichtete Bassam Uda, ein Zivilist, der den Soldaten im Checkpoint neben seinem Haus nach der Attacke zu Hilfe geeilt war. "Die Offiziere der anderen Checkpoints in der Nähe weigerten sich, uns zu helfen. Sie hätten keinen Befehl dazu und dürften ihre Posten nicht verlassen", sagte Uda. Die meisten Verletzten wurden von Bürgern ins Krankenhaus gebracht, Armee und Krankenwagen trafen erst ein, als der Angriff von Israel an der Grenze beendet und die Luft rein war. Während der Beerdigung der Gefallenen in Kairo griff ein wütender Mob die Karosse des neuen Premiers Hischam Qandil an und schlug dessen Fensterscheiben ein, Präsident Mursi blieb dem Ereignis angesichts der aufgeheizten Stimmung gleich ganz fern.

Islamisten waren bemüht, die Verantwortung für den Angriff Israel zuzuschieben. Ein Kommuniqué der Muslimbrüder mutmaßte, das Attentat "könnte dem Mossad zugeschrieben werden". Der habe Ägyptens Revolution von Anfang an verhindern und "neue Problem an der Grenze schaffen wollen", um Ägyptens neuer Regierung ein Desaster in die Schuhe zu schieben. Zudem wolle Israel mit dem Anschlag "einen Keil zwischen Ägypter und Palästinenser treiben". Auch die radikal-islamischen Machthaber der Hamas in Gaza wiesen jede Verantwortung weit von sich. Sie behaupteten, die Angreifer, deren Identität noch nicht bekannt ist, stammten keinesfalls aus Gaza. Aus Solidarität verhängten sie hier wie in Ägypten eine dreitägige Staatstrauer und bezichtigten ebenfalls die Zionisten, hinter dem Anschlag zu stehen. Sie schlossen Hunderte Schmugglertunnel, durch die sich die Wirtschaft des belagerten Landstrichs über Wasser hält. Das sollte verhindern, dass die Täter aus dem Sinai in den Gazastreifen flüchten. Die Folgen dieses Beschlusses waren sofort spürbar: Der Preis von Zement stieg in Gaza seit Beginn der Woche um rund 50 Prozent. Manche Güter werden auf dem Markt bereits knapp. Für die Hamas ist der Beschluss ein besonderes Problem: Die Islamisten finanzieren sich zum großen Teil über Steuern und Zölle, die sie auf den Schmuggel in der Grenzstadt Rafah erheben.

Die meisten Ägypter scheint diese Verschwörungstheorie, laut der Israel sich selbst angegriffen habe, allerdings zu abstrus. Augenzeugen berichten, die Angreifer hätten Arabisch mit palästinensischem Akzent gesprochen. Laut einem offiziellen Bericht der Armeeführung hatten die Terroristen während ihres Angriffes Deckungsfeuer aus dem Gazastreifen erhalten. Nach dem Angriff wurde in Ägypten heftige Kritik an Präsident Mursi laut, der nur wenige Tage zuvor Anweisung gegeben hatte, den Grenzübergang zu Gaza in Rafah länger offen zu halten und Palästinenser durch Ägypten ein- und ausreisen zu lassen: "Dass wir mit den unschuldigen, belagerten Palästinensern im Gazastreifen sympathisieren, heißt noch lange nicht, dass wir Extremisten, die unsere nationale Sicherheit gefährden, alle Türen öffnen müssen", sagte Abdallah Gohama, Stammesführer des einflussreichen Tarabin-Clans im Sinai. Kurz nach dem Attentat wurde der Grenzübergang in Rafah geschlossen.

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Dabei florierte Rafah nach dem Sturz von Präsident Husni Mubarak im Januar 2011. Immer mehr junge Männer rauschten mit Luxuslimousinen durch die staubigen Straßen, bezahlt mit den Gewinnen aus dem lukrativen Waffenhandel mit der Hamas. Das Machtvakuum im Sinai war ihr Gewinn: Polizisten hatten ihre Posten verlassen, Soldaten wollten nicht mehr ihr Leben für Recht und Ordnung aufs Spiel setzen. So patrouillierte die Armee nur noch auf Hauptverkehrsadern und bemannte Straßensperren, das Hinterland fiel in Hände der Schmuggler, Kriminellen und islamischen Extremisten.

Viele von ihnen kamen von außerhalb auf die rechtsfreie Halbinsel, um ihre militanten Ideologien hier zu verwirklichen. Dabei fanden sie in den Beduinen, die traditionell eine heikle Beziehung zur Zentralgewalt in Kairo haben, willige, ortskundige und kampferprobte Verbündete. Sie wurden von der Regierung traditionell benachteiligt, Hunderttausende besitzen nicht einmal einen Ausweis, dürfen keinen Grund und Boden erwerben oder arbeiten. "Zwischen den Clans im Sinai findet ein Wettrüsten statt", sagte ein Bewohner der Stadt al-Arisch. "Sie nutzen ihre Waffen, um ihren Streit auszutragen." Dieser Trend eskalierte nach dem Sturz des libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi: Wo zuvor nur Maschinenpistolen verkauft wurden, konnte man nun auch Luftabwehrraketen, Panzerfäuste und Minen erstehen. Längst waren diese Waffen nicht mehr nur für Extremisten im Gazastreifen bestimmt, sondern dienten auch den Islamisten im Sinai. Den Generalstab kümmerte das kaum: Er hatte im Inland dringlichere Probleme und war überzeugt, dass diese Entwicklung in erster Linie eine Gefahr für Israel darstelle.

Der blutige Angriff auf den Grenzposten hat Ägypter nun eines Besseren belehrt. Tausende demonstrierten auf der Halbinsel dafür, im Sinai die Zentralgewalt des Staates wiederherzustellen. Der Auftakt des militärischen Einsatzes soll zweifellos diese heißen Gemüter beruhigen. Doch ob in Kairo tatsächlich ein "Paradigmenwechsel" stattgefunden hat, wie israelische Beobachter behaupten, war bereits in den Mittagsstunden unklar. Die Kämpfe flauten wieder ab. Am Checkpoint, wo am Montag 16 Soldaten getötet worden waren, war lediglich ein Schützenpanzer mit drei Soldaten postiert. Mit Material von dpa