Regierungschef Hidschab schließt sich Rebellen an. Syriens Regime zieht weitere Truppen für Endscheidungsschlacht um Aleppo zusammen.

Hamburg. Während in den Straßen der syrischen Stadt Aleppo immer erbitterter gekämpft wird, während das Regime von Staatspräsident Baschar al-Assad mehr als 25 000 Soldaten für die Entscheidungsschlacht zusammengezogen hat, bröckelt seine Machtbasis immer weiter ab. Zunächst waren es einfache Soldaten, die aus Abscheu über die Gräueltaten an Rebellen und Zivilisten desertierten, dann schlossen sich hohe Militärs und Diplomaten der "Freien Syrischen Armee" an - und nun hat die Absetzbewegung die Regierung in Damaskus selber erreicht.

Gestern lief Syriens Ministerpräsident Riad Hidschab zur Opposition über; mit ihm sollen mindestens drei weitere Kabinettsmitglieder dem Regime den Rücken gekehrt haben. Nach Meldung der türkischen Agentur Anatolis liefen auch ein syrischer Brigadegeneral und mehrere hochrangige Offiziere zu den Rebellen über.

+++ Syrischer Regierungschef schließt sich dem Aufstand an +++

Im arabischen Sender al-Dschasira verlas ein Sprecher eine Erklärung Hidschabs, der erst seit zwei Monaten im Amt war. "Ich erkläre heute, dass ich mich losgesagt habe von dem mörderischen und terroristischen Regime", hieß es. Und weiter: "Ich erkläre, dass ich von heute an ein Soldat der gesegneten Revolution bin." Aus Regierungskreisen in Amman verlautete, der geflohene syrische Premier halte sich mit seiner Familie an einem sicheren Ort in Jordanien auf.

Riad Hidschabs Ernennung zum Regierungschef nach der Parlamentswahl im Juni war auf ausdrücklichen Wunsch von Assad erfolgt, der große Erwartungen in ihn gesetzt hatte. Nun meldete das Regime, Hidschab sei aus dem Amt entlassen worden; sein Nachfolger sei der bisherige Vize-Regierungschef Omar Galawandschi.

Riad Farid Hidschab stammt aus einer sunnitischen Familie und hat einen Doktortitel in Landwirtschaftsingenieurwesen. Er gehörte der Führung der herrschenden Baath-Partei an, war Gouverneur der Provinzen Kuneitra sowie Latakia - woher die Familie Assad stammt -, bevor er Landwirtschaftsminister und schließlich Premier wurde.

Hidschabs Flucht ist weniger politisch als vielmehr symbolisch bedeutsam. Syrien hat ein autoritäres Präsidialsystem; das Amt des Ministerpräsidenten hat höchstens technischen Charakter. Es ist jedoch bedeutsam, dass ein langjähriger Assad-Getreuer dem Präsidenten in den Rücken fällt. Baschar al-Assad stützt sich nun vor allem auf seinen engsten Machtzirkel, zu dem unter anderem sein als brutal berüchtigter Bruder Maher - Kommandeur der Republikanischen Garde und der elitären 4. Division - sowie die Chefs der vier mächtigen syrischen Geheimdienste zählen.

Gestern Vormittag hatten Unbekannte in der Hauptstadt Damaskus einen Bombenanschlag auf das Gebäude des staatlichen Rundfunk- und Fernsehsenders im Bezirk Omajjad verübt. Es seien mehrere Mitarbeiter verletzt worden, erklärte Informationsminister Omran al-Soabi.

Damaskus ist nach tagelangen schweren Kämpfen wieder fast vollständig in der Hand der Regierungstruppen. Nun sucht Assad in der Geschäftsmetropole Aleppo die Entscheidung. Die uralte "Kulturhauptstadt des Islam", gut 300 Kilometer nördlich der Hauptstadt gelegen, ist mit rund 2,5 Millionen Einwohnern nach Damaskus die größte Stadt Syriens. Dort sollen sich mehrere Tausend Rebellen verschanzt haben - bis zu 8000, wie das Regime erklärte. Sie werden von Bodentruppen, Kampfhubschraubern und Bombern fast pausenlos angegriffen. Insgesamt sind nach Schätzung der Opposition in den 17 Monaten der Rebellion bislang rund 21 000 Menschen ums Leben gekommen; allein im Juli sollen es mehr als 4000 Tote gegeben haben. Die wirtschaftlichen Folgen des Bürgerkriegs und der Sanktionen des Westens erschweren es dem Regime zunehmend, Nachschub zu mobilisieren. Indessen sind Hunderttausende Syrer auf der Flucht vor den erbitterten Kämpfen und den Gräueltaten, die inzwischen beiden Seiten vorgeworfen werden. Die Auffanglager in den Nachbarländern Türkei, Jordanien und Libanon sind überfüllt. Hier bahnt sich die größte humanitäre Katastrophe seit Beginn des Arabischen Frühlings vor eineinhalb Jahren an.

Die Bundesregierung will den Menschen allerdings möglichst vor Ort helfen. An eine Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland sei derzeit nicht gedacht, sagte ein Sprecher des Außenministeriums in Berlin. Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning von der FDP, sagte im Südwestrundfunk (SWR), im Mittelpunkt müsse die Hilfe in den Zufluchtsstaaten Jordanien und Libanon stehen. Darüber zu diskutieren, ob die Flüchtlinge auch nach Deutschland kommen wollten, sei "völlig fehl am Platz", sagte Löning. Die Vertriebenen hofften ja auf eine rasche Rückkehr in ihre Heimat nach dem Ende der Kämpfe.

Als Reaktion auf eine Äußerung von Unions-Fraktionschef Volker Kauder, der über mögliche Hilfe speziell für geflohene syrische Christen spekuliert hatte, sagte Löning, den Flüchtlingen müsse unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit geholfen werden. Man könne doch nicht sagen: "Dir gebe ich, weil du Christ bist, und deinem Nachbarn gebe ich nicht." Auch der menschenrechtspolitische Sprecher der Grünen, Volker Beck, wandte sich gegen eine "Fokussierung allein auf Christen".