Heute Nachmittag wird in Belgien das neue Kabinett vereidigt. Französisch- und flämisch-sprachige Mitglieder teilen sich die Ministerposten.

Brüssel. Belgien hat ein neues Kabinett - 18 Monate nach der Wahl: Die Parteien des Landes einigten sich am Montagabend auf die Machtverteilung in der Führung des Landes. Nach der Ernennung des Sozialisten Elio Di Rupo zum neuen belgischen Premierminister durch König Albert II. wird heute nach einer Rekordzeit von 541 Tagen ohne Kabinett die neue belgische Regierung vereidigt. Der Ministerrunde gehören je sechs französisch- und flämisch-sprachige Mitglieder an.

+++Das Dexia-Debakel: Belgien verstaatlicht Bank+++

+++Sexstreik soll Regierungskrise in Belgien beenden+++

Belgiens Außenminister Steven Vanackere soll Finanzminister werden. Der bisherige Chefdiplomat werde dem frankofonen Liberalen Didier Reynders auf diesem Posten nachfolgen. Reynders soll künftig das Amt des Außenministers bekleiden. Der 47-jährige Vanackere kommt aus Flandern und gehört der Christ-Demokratischen Partei an. Reynders (53) verantwortete seit 1999 die Finanzgeschicke des Landes. Die derzeitige Arbeitsministerin Joëlle Milquet von den französischsprachigen Christdemokraten wird Innenministerin. Hinzu kommen sechs Staatssekretäre, von denen zwei bereits in der geschäftsführenden Regierung Leterme vertreten waren. Die meisten der neuen Minister waren auch Mitglieder der geschäftsführenden Regierung unter dem früheren Premierminister Yves Leterme.

Am Kabinettstisch sitzen somit künftig Sozialisten, Liberale und Christdemokraten. Jede Gruppierung hat jeweils eine französisch- und eine flämischsprachige Partei. Die Machtverteilung zwischen diesen Gruppen ist im vom Sprachenstreit zerrissenen Belgien politisch heikel. Die Hälfte der Ministerposten geht an Vertreter des französischsprachigen Südens, die andere Hälfte an Repräsentanten der Niederländisch sprechenden Flamen.

Nationale Parteien gibt es im zerstrittenen Belgien nicht. Die flämische Separatistenpartei N-VA bleibt in der neuen Regierung außen vor – obwohl sie im Parlament die meisten Sitze hat. Deren Chef Bart De Wever plädiert für eine Abspaltung des reichen Nordens von der wirtschaftlich schwachen Wallonie im Süden.

Belgien war wegen der unsicheren politischen Lage zuletzt ins Visier der Finanzmärkte geraten. Di Rupo ist der erste frankophone Ministerpräsident Belgiens seit 40 Jahren.

Porträt: Elio Di Rupo - Der Marathon-Mann

Als Elio Di Rupo dem belgischen König am späten Dienstagabend endlich die Zusammensetzung des künftigen belgischen Kabinetts verkünden konnte, waren dem neuen Premier die Strapazen der vorangegangenen Stunden ins Gesicht geschrieben. Der Endspurt war zäh – wie fast alle Entscheidungen in den vergangenen Monaten.

Doch wenn Elio Di Rupo etwas hat, dann ist es Durchhaltevermögen. Mehr als ein halbes Jahr hat der hagere Wallone mit Fliege und randloser Brille verhandelt, debattiert, Kompromisse gesucht, verworfen und gefunden, um die zerstrittenen Flamen und Wallonen an einen Tisch zu bringen und endlich eine neue belgische Regierung zu bilden. Eine Aufgabe, die viele angesichts der tiefen Zerrissenheit des Landes für eine Mission impossible hielten. Und auch Di Rupo war zwei Mal nahe dran, endgültig das Handtuch zu werfen.

Einen langen Atem hat Di Rupo, der erste Sozialist an der Spitze Belgiens seit fast 40 Jahren, in seinem Leben schon oft gebraucht. In eine kinderreiche italienische Einwandererfamilie hineingeboren, lernte er bereits in frühen Jahren die Härten des Lebens kennen. Als er gerade ein Jahr alt ist, stirbt sein Vater, ein Minenarbeiter bei einem Unfall. Die Mutter zieht die insgesamt sieben Kinder alleine mithilfe einer schmalen Rente auf. Einige Geschwister müssen aus Not vorübergehend ins Waisenhaus ziehen.

In der Schule tut sich der kleine Elio lange schwer, wiederholt ein Schuljahr mehrmals bevor er auch dank der Unterstützung eines Lehrers schließlich Ehrgeiz entwickelt: Er macht einen Abschluss in Chemie, promoviert und startet eine politische Karriere, die ihn über Spitzenämter bei den frankofonen Sozialisten und das Bürgermeisteramt der Stadt Mons nun ins Amt des belgischen Ministerpräsidenten führt.

Doch es gibt Rückschläge: In den 1990er Jahren wird Di Rupo im Zuge des Dutroux-Skandals der Pädophilie beschuldigt. Ein Vorwurf, von dem er später offiziell freigesprochen wird. Doch die Monate bis zum Freispruch sind für den Sozialisten hart. Ein Rücktritt, der als mögliches Schuldeingeständnis hätte gewertet werden können, sei nie eine Alternative gewesen, erklärt Di Rupo später. „Ich hätte mich umgebracht.“

Im tief gespaltenen Belgien ist der Mann, der bevorzugt rote Fliegen trägt und von Schwulenzeitschriften schon vorab als erster homosexueller Regierungschef Europas gefeiert wurde, allerdings umstritten. Viele Wallonen lieben den Politiker, der noch immer etwas vom leicht verwirrten Charme eines Wissenschaftlers hat, für sein Ringen um soziale Gerechtigkeit und den Schutz der Schwachen.

Aber in Flandern ist der stets freundliche Di Rupo weniger gut gelitten. Für viele Anhänger Bart De Wevers, dessen separatistische N-VA trotz ihres Wahlsieges nicht in der künftigen Regierung vertreten ist, ist der beredte Politiker ein Feindbild. Sie werfen ihm vor, ein machthungriger Krisengewinnler zu sein, der Bescheidenheit nur vortäuscht. Nur ein Drittel der Flamen, so eine vor kurzem veröffentlichte Umfrage, vertrauen ihm, und sehen die Geschicke des Landes bei ihm in guten Händen. Dass sein Niederländisch gelinde gesagt verbesserungsbedürftig ist, macht das Ganze nicht einfacher.

Die Aufgabe, die nun auf Di Rupo zukommen wird, ist alles andere als einfach: Belgien ist schwer angeschlagen. Die Staatsverschuldung liegt bei fast 100 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Das Land muss schmerzhafte und heftig umstrittene Reformen im Arbeitsmarkt und bei den Renten durchziehen und nebenher auch noch die Dexia-Rettung stemmen. Dass Di Rupos Koalition aus sechs Parteien unterschiedlicher politischer Lager und Sprachengruppen besteht, macht das Ganze nicht leichter. Durchhaltevermögen wird sicher noch eine Weile gefragt sein.

Mit Material von dpa/dapd/reuters