Rebellen und der Internationale Strafgerichtshof meldeten die Gefangennahme von Saif al-Islam. Dann bat er plötzlich im umkämpften Tripolis zur Pressekonferenz

Tripolis/Berlin. Plötzlich heißt es, er sei da. Dort draußen in dem weißen Geländewagen vor dem Hotelportal, dort sitze Saif al-Islam al-Gaddafi, der Sohn des Diktators, der Kronprinz des zusammenbrechenden Regimes, das Phantom der Feuernächte von Tripolis. Die Reporter glauben es nicht. Man hatte ihnen gesagt, Saif komme um 22.30 Uhr zu einer Pressekonferenz jetzt ist es schon 1.30 Uhr am Morgen. Sicher hat man sie wieder belogen und die Rebellen haben Saif doch schon geschnappt, wie sie einige Stunden zuvor gemeldet haben. Der Kampf um Libyen ist, wie jeder Krieg, auch eine Schlacht der Täuschungen und falschen Heldengeschichten. Die Reporter sind misstrauisch, als sie aus dem Gebäude treten. "Da drin ist Dr. Saif", rufen die Männer draußen und zeigen auf den gepanzerten Geländewagen. Matthew Chance vom Sender CNN geht zu dem Wagen, alle Türen sind geschlossen, die Scheiben getönt. Er klopft an das Fenster, berichtet er später. Die Scheibe fährt herunter, dahinter ist es dunkel. "Ich habe ins Wageninnere gegriffen und das Licht angeschaltet", erzählt Chance, "und da war er."

Es ist ein bizarres Comeback, das sich nun in der Dunkelheit zuträgt und das Kameraleute für Fernsehsender auf der ganzen Welt festhalten: Saif ist auf den Geländewagen geklettert, er winkt, er dreht sich hin und her zwischen den Armen seiner jubelnden Anhänger, die mit Porträts seines Vaters wedeln. Immer wieder macht er mit den Fingern das Victory-Zeichen. "Natürlich geht es meinem Vater gut", sagt er, ja, die ganze Familie sei zu Hause im Bab-al-Asisija-Palast. Von dort sind Detonationen zu hören. Der angebliche Vormarsch der Rebellen sei doch nur eine List gewesen, um die Aufrührer in die Hauptstadt zu locken. "Wir haben ihnen das Kreuz gebrochen", sagt Saif. Jetzt müssten sie nur noch erledigt werden. Es ist eine strategische Botschaft: Wir gewinnen, nicht die Rebellen - die belügen den Rest der Welt, sonst wäre ich doch nicht hier. Wer sich als Sieger präsentieren kann, hat manchmal schon gewonnen. So aussichtslos, wie die militärische Lage des Gaddafi-Regimes nach sechs Monaten Krieg ist, kann das mit psychologischen Mitteln wohl kaum noch gelingen. Dennoch ist Saifs Auftritt ein schwerer Schlag für die Rebellen.

Den ganzen Dienstag über kämpften Rebellen und Regierungssoldaten um den Palastkomplex Bab al-Asisija. Auch in anderen Stadtteilen hatten die Rebellen offenbar längst noch nicht die Oberhand gewonnen. "Bis gestern dachten wir, dass das Hafengebiet von den Oppositionskräften kontrolliert werde, aber in der Nacht haben sie uns gesagt, abzuwarten und nicht anzulegen", sagte etwa ein Sprecher der Internationalen Organisation für Migration (IOM), die ein Rettungsschiff zur Evakuierung von gestrandeten Gastarbeitern nach Tripolis entsandt hat. Fast 6000 Ägypter, Bangladescher und Philippiner hätten um Hilfe gebeten. Die Rebellen hätten der Hilfsorganisation jedoch gesagt, die Bedingungen für eine Rettung seien im Moment "nicht optimal". Doch Dreh- und Angelpunkt der Kämpfe ist der Präsidentenpalast. Die Schlacht um die gewaltige Anlage hatte schon in der Nacht zum Montag begonnen. Niemand weiß, wie viele Menschen dabei umkommen. Und niemand weiß, ob sich Libyens seit 42 Jahren herrschender Diktator Muammar al-Gaddafi dort befindet. Aber wenn es so ist und er auf Verhandlungen hofft oder versucht, eine Flucht zu organisieren, dann zählt für ihn jede Stunde. Darum kann jeder psychologische Schock, den er seinen Gegnern versetzen kann, das Misstrauen, das er unter ihnen sät, bedeutsam sein für Gaddafi.

"Die Führung der Aufständischen ist sehr frustriert durch diesen Vorfall", sagt Ibrahim Shaqieh, Libyen-Experte und stellvertretender Direktor der Brookings Institution im Emirat Doha, eines der wichtigsten amerikanischen Politik-Beratungsinstitute. "Das Problem ist nicht nur, dass durch Saifs Auftauchen die Angaben der Rebellen unglaubwürdig erscheinen. Es fördert auch gegenseitige Verdächtigungen untereinander." Eine der Theorien für Saifs Auftritt in Freiheit sei, dass der Diktatoren-Sohn seine Bewacher bestochen habe, um freizukommen.

Tatsächlich ist auch am Tag nach dem nächtlichen Comeback vor dem Hotel Rixos nicht klar, wie es zu all dem kam. Das eigentliche Rätsel ist weniger Saifs Propaganda-Coup, sondern eher die Meldung von seiner Gefangennahme, die dadurch dementiert wurde. Zu unwahrscheinlich scheint die Theorie, dass sich die Rebellen den großen Fang einfach ausgedacht hatten.

Eine andere Möglichkeit ist, dass es sich bei der Meldung von seiner Festnahme um eine Verwechslung oder ein Versehen handelte. Bestätigt wurde die Gefangennahme Saifs zunächst von der Pressestelle des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag. Nach Saifs nächtlichem Auftritt erklärte das Gericht, es habe selbst keinen Beleg der Festnahme gehabt. Für eine Stellungnahme gegenüber der "Welt" waren die Sprecher der Uno-Behörde am Dienstag nicht zu erreichen. Auf wiederholte Anfragen reagierten sie mit einer E-Mail, in der sie die Notwendigkeit betonen, die Kriegsverbrechen zu ahnden, die während der Kämpfe in Libyen begangen worden seien. Als Verdächtige dafür suche man Muammar al-Gaddafi, dessen Geheimdienstchef Abdullah al-Sanussi und Saif al-Islam al-Gaddafi.

Der 39-jährige Saif war noch vor Kurzem ein Hoffnungsträger. Der Sohn eines Diktators, aber klug und ehrgeizig genug, um an der britischen Elite-Universität LSE zu promovieren. Lange lebte er im Ausland, in Österreich zum Beispiel, wo er auch mit dem Rechtsextremen Jörg Haider bekannt war. Immer wieder äußerte sich Saif kritisch über sein Land und forderte Entwicklung und Demokratie. Sein Vater wollte ihn offenkundig dennoch zum Nachfolger aufbauen. Saif kam zurück und engagierte sich. Aber er übernahm - wie als Demonstration - kein Regierungsamt. Stattdessen leitete er eine Reformkommission, die eine demokratischere Verfassung erarbeiten sollte. Als im Zuge des Arabischen Frühlings auch in Libyen Unruhen ausbrachen, setzten manche Hoffnungen auf Saif. Doch schon in den ersten Wochen der Demonstrationen stellte sich Saif in wüsten Tiraden auf die Seite seines Vaters.

"Ich habe auch einmal geglaubt, dass Saif dieses Land reformieren will", sagt der Libyen-Experte Sharqieh. "Vielleicht wollte er das auch einmal und er hat sich nur hinter seinen Vater gestellt, weil er wusste, dass er bei einer Revolution nicht mit dem Leben davonkommen würde." War Saif am Ende also vor allem Sohn?

Auch daran zweifelt Sharqieh. "Wenn er seinen Vater hätte retten wollen, dann hätte Saif einen Dialog wenigstens versuchen müssen. Aber wie er gehandelt hat, wie er sich zum eigentlichen operativen Kopf des Abwehrkampfes gemacht hat, beweist einen ungeheuren Machtwillen."