Die Gräben zwischen den Gegnern werden immer tiefer. Opposition ruft zu “demokratischer Einheitsfront“ auf. Scharfe Kritik von der EU.

Kiew. Die ukrainische Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko bleibt in Haft, ungeachtet internationaler Proteste. In einem umstrittenen Prozess gegen die Oppositionsführerin lehnte das Gericht in Kiew am Montag eine Aufhebung der Untersuchungshaft ab. Für die von der Verteidigung beantragte Freilassung gebe es keinen Grund, entschied Richter Rodion Kirejew. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft hat sich an den Gründen für die Haft nichts geändert. In dem mit Härte ausgetragenen Justiz-Thriller um Timoschenko werden die Gräben zwischen den Gegnern derweil immer tiefer. In Kiew riefen am Montag neun Oppositionsparteien in einem dramatischen Appell zur Bildung einer „demokratischen Einheitsfront“ gegen Staatschef Viktor Janukowitsch auf. „Wenn wir nicht reagieren, gibt es bald keine Opposition mehr“, warnt der Abgeordnete Sergej Sobolew. Auch Geistliche schalteten sich ein. Einige hatten angeboten, für Timoschenko zu bürgen.

Der Prozess war unter scharfen Sicherheitsvorkehrungen fortgesetzt worden. Ein starkes Polizeiaufgebot sicherte das Gericht in der Kiewer Innenstadt. Vor dem Gebäude protestierten Hunderte Menschen gegen den seit Juni laufenden Prozess. „Es geht nicht alleine um ihre Freiheit, sondern um die Frage, in welche Richtung sich die Ukraine bewegt“, sagte Timoschenkos Stellvertreter in der Partei Vaterland, Alexander Turtschinow, der Zeitung „Ukrainskaja Prawda“.

Bereits drei Stunden vor Verhandlungsbeginn wurde die 50-Jährige ins Gerichtsgebäude gebracht, damit die Eskorte den angedrohten Sitzblockaden der Opposition entgeht. Im Saal kam es zu einer neuen Runde der Privatfehde zwischen der streitbaren Ex-Regierungschefin und Richter Rodion Kirejew, den sie als „Dorftrottel“ und „Marionette“ beschimpfte. Medien in der früheren Sowjetrepublik sprechen bereits von einem „Duell“ unter dem Motto „Die Schöne und das Biest“: Timoschenko zeigte sich vor Gericht oft makellos und in weißer Kleidung, während der erst 31-jährige Kirejew völlig überfordert wirkte.

Kein Tag vergeht in dem Prozess um angeblichen Amtsmissbrauch ohne schrille Töne. Laut Anklage soll die Ukraine während ihrer Amtszeit durch nachteilige Gasverträge mit Moskau Hunderte Millionen Euro verloren haben. Die Ex-Ministerpräsidentin widerspricht dem und wirft der Regierung eine „Hetzjagd“ vor. Es gehe darum, Gegner von Staatschef Janukowitsch politisch kaltzustellen. Die Politikerin mit dem markanten Haarkranz hatte 2010 gegen Janukowitsch bei der Präsidentenwahl verloren.

Aber auf die dringendste Frage erhalten die rund 46 Millionen Ukrainer keine Antwort: Wohin steuert Europas zweitgrößter Flächenstaat? Nach Jahren der politischen und wirtschaftlichen Stagnation benötigt das Land einen Neubeginn. Viele hätten mit Janukowitschs Wahlsieg Anfang 2010 die Hoffnung auf eine Wende verbunden, meint der Politologe Andrej Jermolajew. Nun wirke es so, als ob sich der Staatschef mehr auf die Ausschaltung seiner Gegner konzentriere als auf die Entwicklung des Landes.

In einer offiziell als „Kampf gegen Korruption“ geführten Kampagne leitet die von Janukowitsch-Funktionären geprägte Staatsanwaltschaft seit Juni 2010 rund 20 Verfahren gegen Ex-Minister und Beamte ein. Die Beschuldigten, darunter Timoschenko und der frühere Innenminister Juri Luzenko, haben eins gemeinsam: Sie engagierten sich während der prowestlichen Orangenen Revolution von 2004, als Janukowitsch als Wahlfälscher entlarvt wurde. Gegner des Präsidenten kritisieren, der Zwei-Meter-Hüne übe mit Hilfe „selektiver Justiz“ Rache für seine damalige Schmach. Janukowitsch weist dies vehement zurück.

Über Jahre hinweg galt die seit 1991 unabhängige Ukraine als Vorzeige-Demokratie unter den Ex-Sowjetrepubliken - trotz aller innenpolitischen Krisen. Die ersehnte Stabilität in dem für die Europäische Union wichtigsten Energie-Transitland dürfte aber weiter auf sich warten lassen. Die „Schlammschlacht“ vor dem Kiewer Bezirksgericht sorge für eine weitere Polarisierung des ohnehin in einen pro-europäischen Westen und einen russischsprachigen Ost- und Südteil gespaltenen Landes, betont der Politologe Igor Schdanow.

Geschickt nutzte Janukowitsch im Präsidentenwahlkampf die Enttäuschung vieler Anhänger von „Orange“, um sich als Alternative anzubieten. Sein Erfolg habe aber auf „Leihstimmen“ basiert, warnen Experten. Sie erinnern daran, dass Janukowitsch der erste Präsident der Ukraine ist, der nicht einmal die Hälfte der Wählerstimmen erhielt. Auch Timoschenko sei kein Unschuldsengel, sondern eher eine „knallharte Machtpolitikerin“, meinen Beobachter aus der EU einschränkend. Das Gefängnis, in dem Timoschenko sitzt, kennt sie schon: Vor zehn Jahren musste sie dort schon einmal 42 Tage in Untersuchungshaft verbringen. Betrugsvorwürfe wurden damals aber fallengelassen.

EU ist "außerordentlich besorgt"

Der Prozess gegen die Politikerin wird international kritisiert. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton und EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle haben die Untersuchungshaft der ukrainischen Oppositionsführerin betonten in einer gemeinsamen Erklärung am Montag in Brüssel: „Wir sind außerordentlich besorgt über die Vorkommnisse im Amtsgericht von Pechersk“. „Die EU und ihre internationalen Partner haben immer wieder die Notwendigkeit eines fairen, transparenten und unabhängigen Gerichtsverfahren betont“, heißt es weiter. Die aktuellen Geschehnisse seien Grund zur Besorgnis über die Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine. Man erwarte hohe Standards von einem Land, das ein Assoziierungsabkommen mit der EU anstrebe. Ashton und Füle ermahnte die Ukraine, „an den Prinzipien und gemeinsamen Werten festzuhalten“, die das Kernstück der derzeitigen Partnerschaft seien.

Die Bundesregierung monierte, das Verfahren wecke den Verdacht „politisch motivierter Justiz“. Als Prozessbeobachter forderte der EU-Botschafter in Kiew, José Manuel Pinto Teixeira, Timoschenkos Freilassung. Russland hatte die Ex-Regierungschefin in Schutz genommen.

Mit Material von dpa/kna