Kaum ein Wortführer aus Politik oder Wirtschaft verteidigt das Jahrtausendprojekt. Die Staaten Europas schützen ängstlich ihre Privilegien.

Einen Europäer ehrten sie am Himmelfahrtstag im Dom und im Rathaus zu Aachen. Einen, der Europa wirklich will. Jean-Claude Trichet wurde in der ehemaligen Kaiserstadt mit dem Internationalen Karlspreis ausgezeichnet, einer der höchsten Würden in der Europäischen Union. Trichet, 68, seit 2003 und noch bis Oktober Präsident der Europäischen Zentralbank, habe stets für die Eigenständigkeit der EZB und für die Stärke der europäischen Gemeinschaftswährung gekämpft, lobte José Manuel Barroso, der Präsident der Europäischen Kommission, in seiner Laudatio. Trichet sei ein "Hüter der Preisstabilität und Glaubwürdigkeit des Euros", sagte der Portugiese.

Solche glanzvollen Stunden Europas sind selten geworden seit der zurückliegenden Weltwirtschafts- und Finanzmarktkrise. Der wirtschaftlich schwache Süden fällt hinter den prosperierenden Norden zurück. Damit zerfällt bei vielen Bürgern auch das Bild eines Europas, das die Herausforderungen der Zukunft einig und stark meistern kann. Griechenland wurde zum Synonym für Verschuldung und wirtschaftlichen Verfall, der Niedergang der "Pleitegriechen" zum allgegenwärtigen Spott- und Gesprächsthema am Stammtisch. Selbst von höchster Stelle wird der Schwelbrand der Missgunst weiter angeheizt. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), auch sie Trägerin des Karlspreises, riet den Griechen dieser Tage, mehr zu arbeiten, um ihre Wirtschafts- und Schuldenkrise zu überwinden. Sie hätte wissen müssen, dass die Jahresarbeitszeit der Hellenen heute bereits höher ist als die der Deutschen. Wahrscheinlich wusste sie es auch. Aber Griechenschelte kommt bei den deutschen Wählern und Steuerzahlern dieser Tage gut an, denn Deutschland trägt als größte Volkswirtschaft Europas besonders stark zur finanziellen Hilfe für Griechenland bei.

Die mittlerweile 27 Mitgliedstaaten der EU driften in vielen Fragen weit auseinander, nicht nur in der Wirtschafts-, auch in der Sicherheits- und Außenpolitik. "Die Wurzeln des Projektes Europa liegen in seiner kulturellen Einheit", sagte EZB-Chef Trichet bei seiner Dankesrede in Aachen. Historisch stimmt das ohne Zweifel - doch das aktuelle Bild deckt sich damit nicht.

Eine Europäische Union in Frieden, Freiheit und wirtschaftlicher Prosperität sollte, so hofften die Gründerväter der Gemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, einen Schlusspunkt setzen hinter Jahrhunderte von Krieg und Vertreibung, Verwüstung und Genozid auf dem europäischen Kontinent. Was die Westeuropäer aufbauten, was große Staatsmänner wie Jean Monnet und Konrad Adenauer, Valéry Giscard d'Estaing und Helmut Schmidt, François Mitterand und Helmut Kohl vorangebracht hatten, das fand seine Vollendung im Fall des Eisernen Vorhangs und der Einheit Europas in den Jahren 1989 und 1990. Zu den Trägern des Karlspreises zählten seither unter anderem auch der frühere tschechische Präsident Vaclav Havel, der ungarische Schriftsteller György Konrád oder der ehemalige polnische Außenminister Bronislaw Geremek.

Noch bis ins neue Jahrtausend hinein preschte die Europäische Union forsch voran. Die osteuropäischen Staaten wurden Mitglieder der EU. Einige führten, wie Slowenien, die Slowakei und zuletzt Estland, mittlerweile bereits den Euro ein. Die Gemeinschaft strotzte vor Selbstbewusstsein. Beim EU-Gipfel in Lissabon im Jahr 2000 nahmen sich die Mitglieder vor, die EU bis zum Jahr 2010 zum "wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt" zu machen.

Dieses Ziel hat die EU vielleicht nicht auf Punkt und Komma, wohl aber unter dem Strich erreicht, trotz der Schuldenkrise in Griechenland, Portugal und auch in Irland: Bezieht man Faktoren wie Wirtschaftswachstum und individuelle Freiheiten, Rechtssicherheit und die Qualität des Umweltschutzes in die Bewertung von "dynamisch" oder "wettbewerbsfähig" mit ein, dann kann die EU mit ihren inzwischen rund 500 Millionen Bürgern heutzutage als lebenswerteste Region der Welt gelten. Die Union und auch ihre gemeinsame Währung, der Euro, haben die Weltwirtschaftskrise weit besser überstanden als die Vereinigten Staaten und erst recht als Japan. Der ostasiatische Inselstaat muss seit März auch noch gegen die Folgen der Naturkatastrophe und des Reaktorunglücks von Fukushima kämpfen. In nominell hoch dynamischen Wachstumsregionen wie China oder Indien wiederum reißt die Kluft zwischen Arm und Reich immer brutaler auf. Obendrein gelten Umweltschutz und Menschenrechte besonders in China wenig.

Der Euro hat zum Erfolg Europas im zurückliegenden Jahrzehnt in überragender Weise beigetragen - er ist die Grundlage für einen gemeinsamen Währungs- und damit Handelsraum. Mehr als die Hälfte der deutschen Exporte gehen in die Mitgliedstaaten der EU. Gerade in Deutschland aber stand die Gemeinschaftswährung von Anfang an unter dem Generalverdacht, ein "Teuro" zu sein, eine Weichwährung, die alles teurer und nichts besser macht. Das genaue Gegenteil trat ein und ist statistisch bis hinter das Komma nachzuweisen. "Stark wie die Mark sollte der Euro werden, und stark wie die Mark ist er geworden", sagte EZB-Präsident Trichet in Aachen. Für einen Franzosen und früheren Chef der Banque de France ist das vielleicht kein einfaches Fazit. Für den Europäer Trichet hingegen schon. "Es gibt keine Krise des Euro", sagte der Träger des Karlspreises. Aber es gibt eine Krise der europäischen Idee.

Der Rückfall Europas in Egoismen und Selbstsucht hat nicht nur mit Wirtschaftsfragen zu tun, mündet aber letztlich immer wieder in die Bilanzierung von Soll und Haben innerhalb der eigenen Staatsgrenzen. So nährt selbst die Befreiung Nordafrikas vom Joch und Terror der Despoten in der reichen EU den Zwiespalt. Über die Frage des militärischen Eingreifens konnten sich die Kernländer der EU, Frankreich, Großbritannien und Deutschland - die zugleich Mitglied des Militärbündnisses Nato sind -, nicht einigen. Während sich Deutschland im Uno-Sicherheitsrat bei einer Resolution für Angriffe gegen Libyen enthielt, schickten Franzosen und Briten ihre Luftwaffe gegen die Truppen des Machthabers Muammar al-Gaddafi. Auch die weitgehend friedliche Revolution in Tunesien entzweit die Europäer. Italien wollte Flüchtlinge aus Nordafrika mit provisorischen Visa versehen direkt in andere Länder weiterschicken - und Dänemark angesichts dessen den freien Durchgang an seinen Grenzen wieder abschaffen.

Beides hätte gegen den Kern europäischen Rechts verstoßen. Beides entblößt aber auch die Überforderung Europas mit sich selbst. "Europa ist in der Gefahr, sich selbst zu verraten", sagte der frühere Bundespräsident Horst Köhler in seinem ersten Interview nach seinem Rücktritt 2010 dieser Tage der Wochenzeitung "Die Zeit". Köhler gilt als profunder Kenner Afrikas und hatte sich auch als Staatsoberhaupt für dessen Belange eingesetzt. Europas Politik gegenüber dem Nachbarkontinent hält er für desaströs. "Die jetzige Situation zeigt, dass wir vor unseren eigenen Werten versagen und vielleicht auch zu wenig unsere langfristigen Interessen sehen."

Doch welche Interessen werden das sein? Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit, wirtschaftliche Solidarität und die Weiterentwicklung eines gemeinsamen Wirtschaftsraums, mehr Einfluss als Gemeinschaft in einer globalisierten Welt stehen gegen den wieder aufkeimenden Nationalismus, gegen wachsende Fremdenfeindlichkeit in vielen EU-Staaten, von Finnland und Dänemark über die Niederlande und Frankreich. Besonders offensiv und erfolgreich betätigen sich dort europafeindliche Parteien und Politiker in Wahlkämpfen und Parlamenten.

Die tiefen Widersprüche Europas seien viele Jahre lang nur übertüncht worden - mit der Wirtschaftskrise, mit der wachsenden Kluft zwischen Europas Norden und Süden, brächen sie nun offen hervor, sagt Sven Giegold, Abgeordneter der Grünen im Europaparlament und Wirtschaftspolitiker. "Die Wirtschaftskrise hat Europa viel stärker zurück auf die Agenda gebracht, als viele Europaskeptiker das wollten. Zu den Europaskeptikern zähle ich auch den früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder und Angela Merkel."

Exzessive Staatsausgaben besonders in Südeuropa, Steueroasen in Luxemburg oder Irland, emsige Arbeit am Exporterfolg in Deutschland - die Interessen einzelner Staaten seien in Wahrheit jahrelang auseinandergedriftet. "Wir müssen entscheiden, ob wir die EU und den Euro stärken und weiterentwickeln wollen", sagt Giegold. "Dafür müssen Kompromisse gefunden werden, dafür müssen die Einzelstaaten auf viele lieb gewonnene Privilegien verzichten." Im Europaparlament sei diese Bereitschaft ausgeprägt, in der Politik der einzelnen Staaten eher nicht. Und auch aus der Wirtschaft höre er in vielen Gesprächen bedenkliche Töne, sagt der Abgeordnete: "Gerade Manager in Deutschland erwecken, beflügelt von den Erfolgen der vergangenen Jahre, den Eindruck: Deutschland braucht die EU und den Euro nicht, wir schaffen es auch im Alleingang."

Für die Generation der Gründerväter sei es nach dem Zweiten Weltkrieg darum gegangen, dass sich die Zerstörungskraft von Kriegen und Weltwirtschaftskrisen in Europa nie wiederholten, sagte Jean-Claude Trichet in Aachen. Später traten die Öffnung der europäischen Grenzen, die Schaffung eines gemeinsamen Marktes in den Vordergrund. Und heute? "Jede Generation muss sich von Neuem für Europa engagieren", stellte der EZB-Chef fest. Doch dieses Engagement ist rar geworden bei den Eliten der Europäischen Union, kaum 20 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges.