Die Japaner glaubten an die Harmlosigkeit der Kerntechnologie - die Betreiberfirma Tepco konnte sie jahrelang belügen

Hamburg. Die tödliche Bedrohung für Städte und Menschen kommt aus den Tiefen des Meeres. Sie steigt ohne Vorwarnung empor, ragt plötzlich hoch über den Hafenmauern auf, die sie mühelos überwindet, um sich wie rasend auf die Häuserzeilen zu werfen und brüllend eine Schneise der Verwüstung durch die Stadt zu schlagen. Gebäude zerbrechen wie Pappschachteln; wer in den Weg dieser monströsen Gewalt gerät, wird zermalmt.

Die Rede ist nicht vom Tsunami, wie man annehmen könnte, sondern von Japans berühmtestem Filmungeheuer Gojira, das im Westen als Godzilla bekannt ist. Gojira ist ein Kunstbegriff, eine Kombination der japanischen Worte für Gorilla und Wal.

Der bis zu 100 Meter gewaltige Godzilla, der seit 2004 sogar einen eigenen Stern auf dem legendären Walk of Fame in Hollywood hat, ähnelt einer Mischung aus den Urzeitechsen Tyrannosaurus rex und Stegosaurus. Sein Filmdebüt hatte das Monster 1954; 28 Godzilla-Filme gibt es bislang. Doch die Riesenechse ist nicht einfach ein kurioser Bestandteil fernöstlicher Medienkultur; ihre Bedeutung reicht bis in die Tiefe der japanischen Seele.

Regisseur Ishiro Hondas Film, nur neun Jahre nach den Atombombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki gedreht, gilt als Allegorie auf das Trauma der Verheerung Japans. Godzilla ist der entsetzliche Atomtod, der fünfte Reiter der Apokalypse. Entstanden als genetische Monstrosität nach Atomversuchen, kann er einen alles vernichtenden radioaktiven Strahl ausspeien; selbst das Militär ist ihm gegenüber völlig machtlos.

Godzilla, der im Laufe der bislang gedrehten 28 Filme vom Vernichter zum Freund und wieder zum Vernichter wurde, steht für die Nuklearängste der Japaner - und ihr ambivalentes Verhältnis zur zivilen und militärischen Nutzung des Atoms. In dieser Hinsicht ist Japan zugleich eine zutiefst traumatisierte, aber auch naive Nation.

Am Morgen des 6. August 1945 um 8.15 Uhr hatte der US-Colonel Paul Tibbets an Bord des B-29-Bombers "Enola Gay" - benannt nach Tibbets Mutter - die Atombombe "Little Boy" über der japanischen Stadt Hiroshima abgeworfen. Drei Tage später detonierte "Fat Man" über Nagasaki. Feuerbälle mit einer Innentemperatur von einer Million Grad verdampften alles Lebendige. Mehr als 90 000 Menschen waren sofort tot, mindestens 130 000 starben Tage später qualvoll, unzählige in den folgenden Jahren.

Da man die Hunderttausenden Verstrahlten zunächst für ansteckend hielt, wurden sie lange isoliert und gesellschaftlich nahezu geächtet. Rund 340 000 dieser "Hibakusha" leben noch heute, viele von ihnen schwer krank und gezeichnet von furchtbaren Brandwunden. Berühmt wurde Sadako Sasaki, die zum Zeitpunkt des Bombenabwurfs über Hiroshima zweieinhalb Jahre alt war. 1954 wurde bei ihr Leukämie diagnostiziert. Sie begann, Origami-Kraniche aus Papier zu falten, denn eine alte japanische Legende besagt, wer 1000 solcher Kraniche falte, dessen größter Wunsch werde von den Göttern erfüllt. Doch die Götter waren Sasaki nicht gnädig, sie starb nur ein Jahr später. Aber ihr Origami-Kranich wurde zum internationalen Symbol des Widerstands gegen den Atomkrieg.

Man sollte meinen, diese kollektive Traumatisierung sollte das japanische Volk in einen erbitterten Widerstand gegen jede Form der nuklearen Nutzung führen. Doch das Gegenteil war der Fall. Japan wandte sich zwar von seiner uralten Kriegerkultur ab und lehnte den Erwerb von Atomwaffen ab, wollte das Atom aber nun anders nutzen, für gute Zwecke einspannen - so, als könne man damit die Dämonen der Vergangenheit bannen.

Heute arbeiten 55 Reaktoren in Japan, zwei weitere sind im Bau, elf geplant. Japan deckt mehr als ein Drittel seines Strombedarfs mit Nuklearenergie ab. Eine politisch wirksame Debatte über die Risiken der Kernkraft wurde in der drittgrößten Industrienation der Erde, die zudem kaum andere Ressourcen hat, nie geführt; noch immer herrscht weitgehende Technikgläubigkeit. Kernenergie gilt als "grüne Energie", da sie kein CO2 freisetzt. Der GAU von Tschernobyl 1986, bei dem vermutlich Zehntausende Menschen ums Leben kamen und der Europa in einen Schockzustand versetzte, führte in Japan nicht zu einer veränderten politischen Haltung zur Kernenergie. Zwar misstrauen inzwischen viele Japaner dieser Energie, doch die organisierte Gruppe der Atomkraftgegner ist, anders als in Europa, bedeutungslos.

Zudem hat die Konsensgesellschaft Japan ein grundlegendes Problem mit frontaler Kritik. Ausgerechnet das einzige Land der Welt, das jemals von einem atomaren Inferno verheert wurde, verschloss Augen und Ohren vor Warnungen und baute seine Kernkraftwerke in Erdbebengebieten.

Seit den Sechzigerjahren ist die Tokio Electric Power Company (Tepco) eine treibende Kraft beim Ausbau der japanischen Atomindustrie. Tepco gilt als viertgrößter Energieversorger der Welt, dem Unternehmen gehören unter anderem 17 Reaktoren in drei Kraftwerkskomplexen, darunter die außer Kontrolle geratenen Anlagen von Fukushima. Zudem betreibt Tepco 160 Wasserkraftwerke, 26 Wärmekraftwerke sowie Wind- und Geothermieanlagen.

Tepco ist eine äußerst umstrittene Firma, ihre Informationspolitik folgt auch diesmal dem alten Muster, nur das zuzugeben, was nicht mehr zu leugnen ist. Ein Verhalten, das viele Japaner in der gegenwärtigen Lage rasend macht.

Im August 2002 musste die Regierung in Tokio einräumen, dass Tepco 16 Jahre lang seine Sicherheitsberichte über die Atomanlagen gefälscht und Störfälle verschwiegen hatte. Der Vorstandschef und sein Vize sowie der Chef des Aufsichtsrates mussten ihre Hüte nehmen; die Kernkraftwerke wurden vom Netz genommen, überprüft und ab 2003 wieder hochgefahren.

Doch 2007 musste Tepco zugeben, dass eine ganze Reihe weiterer Störfälle, bei denen zum Teil radioaktiver Dampf ausgetreten war, wiederum verschwiegen worden war. Und im Juli 2007 beschädigte das Chuetso-Oki-Erdbeben das Tepco-AKW Kashiwazaki-Kariwa an der Japanischen See, das mit 8,2 Megawatt leistungsstärkste Kernkraftwerk der Welt. Aufgrund nicht eingehaltener Sicherheitsstandards schwappte radioaktives Wasser aus einem Becken. Die Firma leugnete dies zunächst - und wieder trat der Vorstand zurück. Tepco räumte später ein, dass die Bodenbeschleunigungen des Bebens die Belastungshöchstwerte für das Kernkraftwerk um das Zweieinhalbfache überschritten hatten. Erst da erkannte man, dass das stärkste Kernkraftwerk der Erde direkt auf einer tektonischen Verwerfung gebaut wurde.