Trotz der Ereignisse in Japan wollen einige Staaten neue Kernkraftwerke bauen, andere fordern Stresstests für bestehende Meiler

Hamburg. Nach dem Atomunglück in Japan debattieren die europäischen Staaten über die Zukunft der Kernkraft. Während mehrere Länder ankündigten, ihre nationalen Atomprogramme überprüfen zu wollen, hat die EU-Kommission für heute zu einem Atomenergie-Gipfel nach Brüssel eingeladen.

Das Nuklear-Unglück hat selbst Frankreich aufgerüttelt, das drei Viertel seines Stroms aus 58 Atomreaktoren bezieht. "Muss man Angst vor der Atomkraft haben?", titelte gestern die Tageszeitung "Le Parisien". Während französische Grünen-Politiker einen Volksentscheid über einen Atomausstieg fordern, bekräftigt die französische Regierung ihr Festhalten an der Atomenergie. Die französischen Atomkraftwerke seien so gebaut, dass sie ein Erdbeben oder eine Überschwemmung aushielten, sagte Umweltministerin Nathalie Kosciusko-Morizet. So könne der Reaktor in Fessenheim nahe der deutschen Grenze Erdbeben bis zu einer Stärke von 6,7 standhalten. Fessenheim ist Atomkraftgegnern in beiden Ländern ein Dorn im Auge, da es im Oberrheingraben und damit in einem Erdbebengebiet liegt.

Die Schweizer Regierung will sämtliche Pläne zum Neubau von Kernkraftwerken vorerst auf Eis legen. Wirtschaftsministerin Doris Leuthard beauftragte die Atomaufsicht, anhand des Unglücks in Japan neue oder schärfere Sicherheitsstandards zu entwickeln. Österreich, das Atomkraft strikt ablehnt, bekräftigte seine Forderung nach Stresstests für die europäischen Meiler. Umweltminister Nikolaus Berlakovich verlangte, zum Schutz der Bevölkerung müsse etwa geklärt werden, ob die europäischen Atomkraftwerke erdbebensicher seien, und wie die Kühlsysteme ihrer Reaktoren funktionierten.

Polens Regierung hält dagegen an ihren Plänen für den Atomeinstieg fest. Sein Land sei nicht erdbebengefährdet, sagte der polnische Regierungschef Donald Tusk. Er sprach sich für "radikale Sicherheit" beim AKW-Projekt aus. "Wir dürfen aber nicht übertreiben", sagte er. Der Bau des ersten polnischen Atomkraftwerks soll 2016 beginnen. Bis 2030 sind insgesamt zwei AKWs mit einer Gesamtleistung von 6000 Megawatt geplant.

Die Türkei will ebenfalls nicht von ihren Plänen für den Bau von zwei Atomkraftwerken abrücken. Energieminister Taner Yildiz wies darauf hin, dass die Türkei die neueste Technologie einsetzen werde, während die bei dem Erdbeben in Japan zerstörten Anlagen aus dem Jahr 1971 stammt. Russische Unternehmen sollen im Süden vier Reaktorblöcke bauen. Der staatliche russische Kraftwerkbauer Atomstroiexport hatte sich als einziges Unternehmen um den Bau des Atomkraftwerks in dem von Erdbeben gefährdeten Gebiet beworben. Für den Bau des zweiten geplanten Meilers am Schwarzen Meer verhandelt die Türkei mit japanischen und französischen Anbietern.

Heute sollen die 27 EU-Energieminister mit dem zuständigen Kommissar Günther Oettinger über die Konsequenzen für Europa beraten. "Die Tragweite auch für die Energiewirtschaft und die Politik ist nicht absehbar", sagte Oettinger. Er habe nicht nur die Kontrollbehörden, sondern auch die EU-Energieminister, die Hersteller von Atomkraftwerken und die Energieunternehmen eingeladen. "Es muss über alle notwendigen rechtlichen, technischen, wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen geredet werden." Oettinger schließt auch die Stilllegung alter Reaktoren nicht aus.