Am Dienstag stimmen Kaliforniens Bürger in einer Volksabstimmung über die Legalisierung ab. Ergebnis ist völlig offen. Eine Reportage.

Auf der Interstate 101, die von San Francisco in Richtung Norden führt, herrscht in diesen Tagen reger Verkehr. Schwere LKWs donnern die Straße entlang, und an jeder Kreuzung sitzen Tramper, winken den vorbei rasenden Autos zu und warten auf den nächsten Trip. Auf den Pappschildern, die die jungen Männer mit Rucksack, Kapuzenpulli und 14-Tage-Bart in den Händen halten, haben sie jedoch nicht ihr Ziel oder eine Himmelsrichtung gekritzelt, sondern eine kleine Schere. Das harmlose Küchenwerkzeug ist ein Code-Zeichen, das anzeigt, dass die Männer als Erntehelfer arbeiten wollen. Jedoch nicht auf den Weinbergen oder Zitrusfrüchte-Hainen, für die der Sunshine State Kalifornien so berühmt ist, sondern auf Marihuana-Plantagen von Kalifornien. Die Monate Oktober und November sind Erntezeit in den Counties Humboldt, Mendocino und Trinity, wo in engen, unzugänglichen Tälern und zwischen Redwood-Bäumen große Mengen von hochpotentem Gras angebaut werden. Die Region wird auch Emerald Triangle genannt, oder: „Die Champagne des Cannabis“. Arbeitskräfte werden hier händeringend gesucht. In diesem Jahr wird eine Rekordernte erwartet, die mehr als 14 Milliarden Dollar einbringen könnte. Cannabis hat Weizen und Mais in Kalifornien als lukrativste Kulturpflanze abgelöst.

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In diesen Tagen wird in Kalifornien nicht nur das Erntedankfest vorbereitet, sondern auch darüber entschieden, wie die Zukunft der boomenden Agrar-Branche aussehen wird. Am 2. November stimmen die Wähler in einer Volksabstimmung darüber ab, ob Kalifornien als erster Bundesstaat der USA Anbau und Besitz von Marihuana legalisiert. Proposition 19 heißt der Gesetzesentwurf, der vorsieht, dass jeder Einwohner von Kalifornien über 21 das Recht ein halbes Pfund Marihuana zu besitzen oder die Pflanzen auf einer Fläche von 25 Quadratfuß selbst anzubauen. Die Umfragen sagen ein knappes Ergebnis voraus. Unbestritten aber ist: Der Kalifornier kifft gerne. Bis zu zehn Prozent der Einwohner zählen sich zu regelmäßigen Nutzern.

Kalifornien ist das Geburtsland der Gegenkultur. Hier haben die Hippies in den 60er Jahren das Surfen-Chillen-Kiffen als Gegenprogramm zum bürgerlichen Dasein zwischen Taufurkunde , Ehevertag und Gehaltsabrechnung entworfen. Hier haben konservative Politiker wie Ronald Reagan aber auch immer restriktivere Maßnahmen gegen Drogenmissbrauch und Kriminalität erprobt. Viele Kommentatoren sehen die Abstimmung um Proposition 19 deshalb als „letzte Kapitel des Kulturkampfes“. Die Prop 19 nicht nur kontroverse Lokalpolitik sondern entscheidend für die Zukunft der amerikanischen Gesellschaft.

Dabei ist in Kalifornien der Marihuana-Konsum schon seit einigen Jahren de-facto legal – oder zumindest problemlos möglich. Im Jahr 1996 wurde die Prop 215 verabschiedet, die es jedem Menschen, der eine ärztliche Bestätigung vorweisen kann, erlaubte, Cannabis für medizinische Zwecke zu nutzen. Seitdem sind Plantagen und Dispensaries genannten Shops in Kalifornien so schnell gewachsen wie Cannabis Indica bei der feuchtwarmen Witterung des Emerald Triangle. Allein in Los Angeles gibt es 137 Marihuana-Vertriebsstellen. Prop 215 wurde ursprünglich für AIDS-Patienten oder Krebskranke geschrieben, die mit dem Wirkstoff THC ihre Schmerzen oder Appetitlosigkeit behandeln sollten, im Gesetzestext ist aber auch von „jeder andere Krankheit“ die Rede - und wer hat nicht manchmal Rückenschmerzen. Zwar darf Marihuana offiziell nicht kommerziell vermarktet und auch nur von Patienten in so genannten Pflanzer-Kollektiven angebaut werden. Durch kreative Buchführung und Mitglieder-Management können die Pflanzer und Händler diese Grenzen jedoch leicht umgehen. Aus der Selbstversorger-Szene ist eine kleine Industrie geworden.

In Stadtmagazinen wie LA Weekly finden sich jede Woche Anzeigen von Firmen, die „Rainforrest Collective“ oder Happy Medical Center“ heißen, für 40 Dollar eine Lizenz zum Kiffen anbieten und mit Sonderangeboten und hübschen Frauen werben. Die Dispensaries sind aus dem Straßenbild von Los Angeles ebenso wenig wegzudenken wie die vielen Nagelstudios und kleinen Salons der Wahrsagerinnen. Auf der Strandpromenade von Venice Beach, auf der Bodybuilder, Skateboarder und Reggae-Musiker jeden Tag eine Live-Performance des Californian Way of Life für die Touristen aufführen, ist Cannabis schon lange ein Bestseller. Immer wieder läuft man durch Schwaden von süßlichem Rauch hindurch, in dem Laden „La-La Land“ kann man Wasserpfeifen in allen Formaten, Formen und Farben kaufen und nebenan im Souvenirshop die T-Shirts mit Bob Marley-Druck. Das fünfblättrige Cannabis-Blatt ist ein Symbol der globalen Gegenkonsumkultur, genau wie das Smiley- oder das Peace-Zeichen.

50 Meter vom Strand entfernt hat vor einigen Jahren die Klinik 420 aufgemacht. Auf einem großen Schild über dem Eingang zu dem zweistöckigen Gebäude steht: „Der „Doktor empfängt Patienten“. Ein junger Mann mit Dreadlocks verteilt Flyer und fragt die Passanten „How are you feeling today?“. Beim kleinsten Zipperlein hilft vielleicht ein Joint. Einen Termin brauchen die Patienten – allesamt junge und gesund aussehende Menschen – nicht, auf einem Schild werden wie auf einer Speisekarte Symptome und Rechtfertigungen aufgeführt: Rückenschmerzen, Angstzustände oder Schlaflosigkeit. Die Klink teilt sich das Gebäude mit der Firma „Botox on the Beach“, die mit einem schnellen Pieks die Falten und Hautverunreinigungen wegspritzt. Und irgendwie passt das ganz gut: THC und Botox sind beides Substanzen, die dem User versprechen, den alten Menschheitstraum von ewiger Jugend und Glückseligkeit zu erfüllen. Den Mitarbeitern scheint die Ironie nicht aufzufallen. „We heal the world“, sagt die Sprechstundenhilfe ganz ernsthaft. Das Mädchen trägt wie alle Angestellten einen OP-Kittel, der Seriosität ausstrahlen soll, was besser funktionieren würden, stünde hinter dem Tresen nicht auch ein Kunststoffskelett mit glühenden Augen und E-Gitarre.

Richard Lee ist seit einem Unfall in den 80er Jahren an den Rollstuhl gefesselt, und konsumiert Marihuana, um die Phantomschmerzen in den Beinen zu bekämpfen. Der 47-jährige Unternehmer sieht mit dem Topfhaarschnitt und der großen Hornbrille nicht aus wie ein Kiffer, sondern eher wie ein entfernter Verwandter von Bill Gates. Und nicht wenige trauen ihm ebenfalls sehen ihn ebenfalls wie Gates als Visionär, der einen Milliardenmarkt erschließt. Lee hat in den 90er Jahren ein Vermögen mit Software gemacht, und gründete 2007 in Oakland seinen ersten Marihuana-Shop. Mittlerweile hat er mehrere Filialen eröffnet und betreibt auch die „Oaksterdam University“, die Kurse anbietet wie „Kulturgeschichte des Hanf“, „Marihuana und Recht“ und Botanik-Stunden, in denen Studenten lernen, wie man Cannabis-Pflanzen anbaut. Lee ist der Geldgeber und die treibende Kraft hinter Proposition 19. Er kann leidenschaftlich über den „Kampf gegen die Kriminalisierung einer Kulturpflanze“ wettern, „die die Menschen seit 5000 Jahren verwenden“. Vor allem aber ist Richard Lee ein Geschäftsmann. „Proposition 19 ist eine große Gelegenheit, den bankrotten Staat Kalifornien zu sanieren“, sagt Lee. Kalifornien könne durch Umsatz- und Cannabis-Steuern bis zu 1,4 Milliarden Dollar pro Jahr einnehmen. Auch der THC-Tourismus aus aller Welt und die Spinoff-Industrien, die aus Hanf etwa Textilien und Kosmetika herstellen könnten, seien ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Richard Lee hat gelernt, dass es wenig Sinn macht, mit Worten wie Bewusstseinserweiterung oder der Surferparole „Hang Loose“ zu argumentieren, und führt lieber Zahlen, Tabellen und Tortendiagramme ins Feld. „ Tax Cannabis“, heißt die Initiative deshalb auch offiziell, und nicht, wie Bob Marley früher gesungen hat, „Legalize it“. Lee sagt: „Wir sollte nicht aussehen wie Stoner, die nur kiffen und Frisbee spielen wollen.“

Zwei Tage vor der Abstimmung treffen sich in der Filiale der „Oaksterdam University““ in Los Angeles die Hanfaktivisten, um den „finalen Kraftakt der Kampagne“ zu organisieren. Das flache, einstöckige Gebäude liegt zwischen einem Café und einem Werkzeugladen im Stadtteil Silverlake, und sieht nicht unbedingt wie die Zentrale einer Revolution aus. Im Foyer aber steht Matt, ein 250 Kilo schwerer Mann mit Vollbart und einem großen Grinsen, streckt die Arme in die Luft und ruft: „Wir verändern hier die Geschichte und die ganze Welt.“ Etwa 50 Menschen haben sich in dem sterilen Raum der OU versammelt, die Wände sind mit grüner Farbe gestrichen, von der Decke brennt Neonlicht. Ein großes Plakat verkündet den Slogan: „Yes we Cannabis“. Die Wahlkampfplakate stehen neben den Unterrichtsmaterialien der Hasch-Hochschule: Enzyklopädien, Do it yourself-DVDs und eine schwarze Kabine von der Größe eines Toilettenhäuschens, aus der silberne Rohre und viele Kabel ragen – ein Mini-Gewächshauses für das Eigenheim. An der Wand stapeln sich Pakete mit CO2-Dünger, einem Pestizid mit dem schönen Namen „Zero Tolerance“ und die „Green Stealth-LED“, deren Dioden nur wenig Hitze absondern, und nicht von den Wärmebildkameras des FBI erkannt werden. Matt hofft auf einen legislativen Domino-Effekt: „Wenn Kalifornien den Anfang macht, dann werden erst der Rest der USA und dann die ganze Welt folgen“.

Das Treffen wirkt wie der Lehrgang der Vertreter-Gewerkschaft . „Ihr müsst immer lächeln und Energie verbrieten“, schärft Matt der bunt gemischten Gruppe aus Studenten, Filmemacher, Hausfrauen und Arbeitern ein. In Rollenspielen wird die Agitation in der Fußgängerzone. Dann machen sie sich Mit mit Rufen wie „WinWinWin“ und „YesYesYes“. Es klingt wie ein Mantra, ein Gebet, das Sie in den Himmel schicken.

Bruce Margolin ist ebenfalls ein Befürworter der Prop 19 – „obwohl es mein Geschäft schädigen könnte“. Margolin vertritt seit den 60ern Jahren Kiffer, die mit dem Gesetz in den Konflikt gekommen sind, und hat den LSD-Guru Timothy Leary nach dessen Fluchtversuch aus dem Knast verteidigt. 20 000, so hoch schätzt Margolin die Zahl der Marihuana-Prozess, die er geführt hat. „Seit den 70ern hat sich wenig verändert“; sagt er, „wenn überhaupt, dann ist die Rechtssprechung strikter geworden“. Margolin ist selbst im Besitz eines Marihuana-Rezepts und meint: „Was soll die Aufregung, das Zeug ist doch nicht giftig.“ Anstatt Kiffer zu kriminalisieren, sagt Margolin, solle man lieber mit Therapien und Präventionsmaßnahmen sicherstellen, dass die Menschen ihr Leben leben können“. Immerhin haben die letzten drei Präsidenten zugegeben in der Uni-Zeit mit Drogen experimentiert zu haben. Margolin lacht: Und irgendwie sie haben es trotzdem zu etwas gebracht.

Auf der Webseite „Not o Pop 19“ ist das Foto eines Autowracks zu sehen und in blutroter Schrift die Frage: Ist es das wert? Die Gegner der Legalisierung argumentieren, dass durch die Freigabe von Cannabis die Zahl der Autounfälle und Verbrechen steigen könnte, und entwerfen die Horror-Vision einer Gesellschaft, in der Lehrer und Notärzte bekifft zur Arbeit kommen. Die meisten Gegner sprechen sich jedoch nicht gegen sprechen die Legalisierung an sich aus, sondern meinen wie die LA Times: „Das ist einfach ein schlecht geschriebenes Gesetz“. Prop 19 sieht vor, dass die mehr als 500 Landkreise und Städte selbst entscheiden können, in welchem Umfang Konsum, Anbau und Vertrieb erlaubt sind. Sollte Prop 19 angenommen werden, ist abzusehen, dass ein juristischer Flickenteppich entstehen würde, ein wilder Mix aus Sonderwirtschaftszonen und No-Go-Areas. Anwälte erwarten eine Flut von Klagen und Verfahren. „Es ist ein juristischer Morast“, sagt Erwin Chemerinsky, Dekan der Jura-Fakultät der University of California in Irvine, “Proposition verändert nicht die Bundesgesetze oder die Möglichkeit der Bundesbehörden diese Gesetze zu vertreten. Wer soll das FBI und DEA aufhalten?“

Egal wie die Abstimmung ausgeht, Dispenseries wie The Farmacy werden auch am 3. November geöffnet haben. The Farmacy ist eine Kette von edlen Ganja-Geschäften, die mit Edelholz-Amaturen, Schieferplatten und Bambusgras eher aussehen wie ein Spa als eine Bar.

In einer Glasvitrine werden nicht nur mehr als 30 Cannabis-Sorten ausgestellt, das Kraut gibt es auch in allen Aggregatszuständen zu kaufen: als Eis, Gel, Spray oder „fettfreien Cookie Haselnüssen und Heidelbeeren“. Verkaufsschlager, erklärt die schlanke, freundliche Verkäuferin, sind „vor allem Bio-Produkte, die ohne Pestizide und unter freiem Himmel kultiviert werden“. Marihuana-Konsum ist in Kalifornien in wenigen Jahren zum festen Bestandteil der Wellness-Industrie geworden, gehört genauso zum guten Leben wie Yoga-Kurse und eine veganische Diät. Auf Cocktail-Partys in Hollywood reden die Menschen mittlerweile über verschiedene Marihuana-Sorten wie über gute Weine aus dem Napa Valley, fachsimpeln über Sorten wie Kryptonite, Purple Kush oder Sour Diesel, erzählen kenntnisreich vom Ursprung des Gewächses in den Bergen von Afghanistan, dem milden oder wilden High (Wirkung) und der Geschmacksnote im Abgang. Cannabis ist in Kalifornien ein Lifestyle-Produkt und gerade deshalb so schwer aufzuhalten. Wenn die Normalisierung des Konsums erst einmal abgeschlossen ist, dann ist die Legalisierung nur noch Formsache.

Vielleicht sind die Aktivisten deshalb so entspannt. Vielleicht hat das aber auch andere Gründe. Vor dem Kampagnenbüro in Silverlake machen die Aktivisten eine Pause. Elizabeth, eine dünne, ältere Dame, die „schon unter Nixon gelitten und auf Konzerten der Doors Gras geraucht hat“, setzt sich zu einem jungen Studenten. „Wir geben alles und hoffen auf die Weisheit des Wählers“, sagt sie, „everything is up in the air“. Dann holt Elizabeth mitten auf dem Gehweg einen Joint raus und zündet ihn an. Keine Alarmanlage schrillt, der Verkehr auf der sechsspurigen Straße zischt gleichgültig vorbei. Elizabeth fragt: „Willst du mal?“ Der Student nimmt einen tiefen Zug, legt den Kopf in den Nacken und atmet aus. Die dichte, weiße Rauchwolke zieht hoch in den makellos blauen Himmel von Südkalifornien und löst sich langsam auf.